Die philosophische Ethik bemüht sich
seit der Antike, ein Fundament für die moralischen Urteile zu finden. Bevor wir
uns mit Kant beschäftigen, werfen wir einen kurzen Blick auf die klassischen
Grundlegungsmodelle der Ethiktheorie.
Hedonismus geht von dem Lust- bzw.
Genussprinzip aus und hält alles, was dem Menschen Lust und Genuss verschafft für
moralisch vertretbar. Aristoteles betrachtet das, was den Menschen zur dauerhaften
Glückseligkeit (gr. eudaimonia) verhilft für „gut“ und gilt beim ihm als Grund
ethischer Bewertung menschlichen Handelns. Man spricht hier vom Eudämonismus. Einen
anderen Versuch, Ethik zu grundlegen unternehmen die Utilitaristen, indem sie
alles als moralisch gut beurteilen, was nützlich für den Einzelnen, aber auch
zugleich für die Mehrheit der Gemeinschaft ist. Utilitarismus bezieht sich also
auf den Nutzen, um die Ethiktheorie zu fundieren.
Weiterhin werden moralische
Vorstellungen aus Instanzen wie Religionen, Traditionen oder alten Mythen
bezogen. Da der Mensch sich hier auf Quellen außerhalb seiner eigenen
Vernünftigkeit verlässt und somit sich fremdbestimmen lässt, redet man von
Heteronomie (Fremdbestimmtheit). Auch beim Verfolgen von Befehlen von höheren Autoritäten
lassen sich Menschen fremdbestimmen und somit ihrer moralischen Verantwortung
entziehen (denken sie zumindest). Ein Sprichwort bei manchen muslimischen
Sekten verkörpert beispielhaft diese Tatsache und hat circa diese Übersetzung:
„Verlass dich auf einen religiösen Gelehrten (Schaich) und sei unbesorgt!“. Man
will hiermit meinen, solange du Antworten auf deine moralischen Handelsfragen
von einem Schaich beziehst und nach seinem "Fatwa" bzw. religiösen
Rat handelst, dann brauchst du dich um nichts Weiteres kümmern. Eine der vielen
fatalen Konsequenzen jenes Irrtums gipfelt in Attentaten von Selbstmördern
(Menschbomben), die eisenfest daran glauben, dass der Schaich doch die Vollverantwortung
für diese Taten trägt während sie sich als angeblich „Märtyrer“ auf das
himmlische Paradies freuen dürfen. Dass dabei unschuldige Menschen und
paradoxaler Weise vor allem Gleichgläubiger umkommen (Iraks Fall z. B.) stört diese
moralisch durch politische Fanatiker fremdbestimmten Totmacher nicht im
Geringsten, obwohl der Koran wörtlich sagt: „[…]
wenn jemand einen Menschen tötet – es sei denn für (Mord) an einem andern oder
für Gewalttat im Land -, so soll es sein, als hatte er die ganze Menschheit
getötet; und wenn jemand einem Menschen das Leben erhält, so soll es sein, als
hätte er der ganzen Menschheit das Leben erhalten.“ (1) Sogar diese
unmissverständliche Klarheit im religiösen Text (Koran) hilft einem nicht, der
seine Freiheit nicht wahrnimmt und sich moralisch versklaven lässt. Aus der
Geschichte sind die Nazi-Ideologen und ihre unzähligen Opfern ein weiteres
Beispiel unter vielen, wohin die Heteronomie führen kann.
Kommen wir jetzt zum großen
Philosophen der neuzeitlichen Ethik, Kant. Das Ideal der Neuzeit im Allgemeinen
ist, der Vernunft das letzte Urteilen über alles im Leben zu gewähren. Kant ist
ein kompromissloser Verteidiger dieses Ideal und als erster, der durch seine
umfangreiche Kritiken versucht, das menschliche Vermögen „Vernunft“ umfassend zu
erforschen, um ihre Macht und Grenzen zugleich aufzuzeigen.
Unter seinen vier berühmten
Grundfragen (2), die alle Themenbereiche der Philosophie zusammenfassen, steht
die Frage: „Was soll ich tun?“ und seine Beantwortung dieser Frage legt seine
Ethikphilosophie dar (3). Er setzt bei der menschlichen Freiheit an und
meint, dass allein die Tatsache, dass wir in der Lage sind, ein
"Sollen" zu verstehen, zeigt, dass wir frei sind. Ein Handeln unter
äußerem Zwang, also fremdbestimmt kann nach Kant moralisch nicht beurteilt
werden. Daher ist seine Ethik auf die Autonomie jedes Menschen basiert und
akzeptiert daher keine Ansprüche als Moralgrundlage, die nicht aus menschlicher
Vernunfteinsicht hervorgehen. Auch alle Orientierungen nach "vorgefertigten"
Moralwerten oder Nutzenabwägungen gehören für ihn zur Heteronomie und deswegen
für eine Ethikbegründung irrelevant. Wie soll nun der freie Mensch handeln?
Also, was soll er tun?
„Es
ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken
möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein
guter Wille.“ (4).
Kant meint, nicht das, was wir tun
wollen, kann als "gut" genannt werden, denn das würde heißen, das
Gute ist ein uns äußerer Wert, nach dem wir zu handeln haben, sondern einzig der
Wille kann "gut" charakterisiert werden, da er frei ist, nach ethischen
Kriterien bestimmt und sich selbst die Handlungsgesetze vorschreibt, und diese
Freiheit hat die Eigenschaft des Guten, solange sie moralisch handelt. In Kants
Ethik spielt der Begriff "Freiheit" eine Schlüsselrolle. Wir
verstehen Sollensansprüche als Faktum unserer Reinvernünftigkeit (5), also
ist Sollen ein Aspekt unseres Vernunftskönnens. Und Können besteht aus
Fähigkeiten, diese wiederum verkörpern Möglichkeiten, also Freiheit zu wählen
oder sich zwischen diesen zu entscheiden. Aber was macht einen Anspruch
notwendig? Hierzu schließt Kant zuerst alles aus, was nicht aus eigener
Vernunft hervorgeht, also was die Freiheit widerspricht, etwa äußere Zwänge
oder unsere natürliche Triebe. Dann ist alles Übrige - was nicht von außen
"diktiert" oder "aufgezwungen"- unbedingt, da es unserer
Freiheit entspringt. Für Kant verpflichtet sich der gute Wille,
Sollensansprüche bzw. moralische Gesetze vorzugeben und umzusetzen allein aus
Freiheit und für die Freiheit.
Nach diesen einleitenden Grundgedanken
kann man sich dem kategorischen Imperativ Kants wenden. Der Kantische Ausdruck
davon lautet: "Handle so, dass die
Maxime deines Willens jederzeit zugleich
als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte." (6) Eine
andere Formulierung dieses Ansatzes finden wir in (7)
und heißt so: „Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner
Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck,
niemals bloß als Mittel brauchest.“
Nach dem wir gesehen haben, dass für
Kant allein der Wille gut ist und daher sich in Freiheit Maxime im Leben
vorschreibt, lesen wir aus diesem Ansatz, wie er aus Sollenssätzen, einen kategorischen
Imperativ ausschöpft, indem er ein Kriterium definiert, nach dem subjektive
individuelle Maxime bemessen werden, um daraus ein moralisches Gesetz gemacht
werden kann. Und das Kriterium heißt, die vernünftige Überprüfung aller Maxime
auf Verallgemeinerungsfähigkeit, d. h. die kritische Frage danach, ob diese
Maxime für alle Menschen moralisch annehmbar wären.
Warum spricht Kant von Imperativen?
Ein Imperativ ist ein Befehl, eine zwingende Anweisung, die befolgt werden
muss. Woher entspringt dieses „Müssen“?
Kant teilt die Imperativen in
hypothetische und kategorische Imperative auf. Eine Zusammenfassung aller
Sollenssätze nach Kant gibt das Bild unten wider. Es liegt auf der Hand, dass
ein hypothetischer Imperativ in seiner Hypothese, seiner Prämisse begründet
liegt, denn nur wer die Prämisse erfüllt, nimmt den Imperativ wahr. „Aufhören
zu rauchen“ ist z. B. eine Voraussetzung für das Schonen der Gesundheit, obwohl
der Raucher hier freiwillig bleibt, ob er diesen objektiven Imperativ umsetzt
oder nicht. Wie lässt sich aber der kategorische Charakter eines kategorischen
Imperativs begründen? „Kategorisch“ heißt, der Imperativ ist unbedingt, also
notwendig. Kant sagt: „Zwei Dinge
erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmenden Bewunderung und Ehrfurcht,
je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das
moralische Gesetz in mir“ (8). Dieser Spruch zeigt, dass Kant
denkt, den Menschen als solchen ist eine gewisse Befähigung zur Moralität
angeboren, sie ist ein Charakter unseres Geschlechts. Weiterhin ist Kant dafür bekannt,
dass der Mensch erst durch Erziehung zum Menschen wird und unter seinem
vierstufigen Programm steht die Moralisierung als letzte Stufe (9). Die
Erziehungsphase „Moralisierung“ setzt bei der in Anlage angeborenen Moralität
an und lehrt den Menschen sich für gute Zwecke zu entscheiden, nach dem er
diese Zwecke überprüft und zwar nach dem kantischen Maßstab der Gesetzgebung,
der Verallgemeinerungsfähigkeit jener Zwecke, ob sie von jedermann akzeptiert
werden und zugleich jedermanns Zwecke sein können.
Borges meint etwa, dass ein
ungeheureres Labyrinth als alle kreisförmigen Labyrinthe ist ein geradliniges
Labyrinth. Gilles Deleuze sagt hierzu, dass es hier zwar um ein wunderbares
Wort eines Literaten geht, aber im Grunde genommen handelt es hier um einen
kantischen Begriff, nämlich dass die Zeit nach ihm nicht mehr von der Bewegung
abhängig ist, sondern die Bewegung ist zeitabhängig. Daher ist die Zeit seitdem
nicht mehr zirkulär (etwa in Ansehung der Planetenbewegung), sondern linear,
also beschreibt eine Gerade. Der Fortschritt der Menschheit zum Besseren nach
Kant liegt hier begründet, dass die Zeit und damit auch das Leben nur noch
geradlinig und vorwärtsverlaufen kann und zwar vom Schlechten zum Guten, zum
Besseren.
In Ansehung aller schrecklichen Kriege zumindest ab den zwei großen Weltkriegen
und aller Umweltkatastrophen, die u.a. durch Nukleartechnik universales Ausmaß
erreichen, sieht dieses neuzeitliche Projekt Kants unter heutigem Licht etwas
blass und gutgläubig. Daher stellt sich die Frage: Sind die Probleme und Krisen
der modernen Welt, die so riesig sind wie seine technologischen Möglichkeiten
noch mit neuzeitlichen Kategorien und Begriffen zu denken?Literatur:
(1): Koran, Der Tisch (Al-Máedah),
Vers 32. (www.koran-auf-deutsch.de)
(2): Die vier bekannten Grundfragen
von Kant
Was
kann ich wissen?
Was
soll ich tun?
Was
darf ich hoffen?
Was
ist der Mensch?
(3): v.a. in Kants Werken: a)
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. b) Kritik der praktischen Vernunft.
(4): Kant, Grundlegung zur
Metaphysik der Sitten, Erster Abschnitt (www.zeno.org)
(5): GPTD 6, S. 82 f.
(6): Kant, Kritik der reinen
Vernunft, GPTD 6, S. 81
(7): Kant, Grundlegung zur
Metaphysik der Sitten, Werke 6, S. 60 f.
(8): Kant, Kritik der reinen
Vernunft, zweiter Teil, Beschluß (www.zeno.org)
(9): Koller,
Hans-Christian, Kants Begriff von Erziehung (www.karteikarte.com)
GPTD = Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung
Reclam/Stuttgart
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