12.06.2013

Immanuel Kants kategorischen Imperativ. Eine Interpretation



Die philosophische Ethik bemüht sich seit der Antike, ein Fundament für die moralischen Urteile zu finden. Bevor wir uns mit Kant beschäftigen, werfen wir einen kurzen Blick auf die klassischen Grundlegungsmodelle der Ethiktheorie.
Hedonismus geht von dem Lust- bzw. Genussprinzip aus und hält alles, was dem Menschen Lust und Genuss verschafft für moralisch vertretbar. Aristoteles betrachtet das, was den Menschen zur dauerhaften Glückseligkeit (gr. eudaimonia) verhilft für „gut“ und gilt beim ihm als Grund ethischer Bewertung menschlichen Handelns. Man spricht hier vom Eudämonismus. Einen anderen Versuch, Ethik zu grundlegen unternehmen die Utilitaristen, indem sie alles als moralisch gut beurteilen, was nützlich für den Einzelnen, aber auch zugleich für die Mehrheit der Gemeinschaft ist. Utilitarismus bezieht sich also auf den Nutzen, um die Ethiktheorie zu fundieren.
Weiterhin werden moralische Vorstellungen aus Instanzen wie Religionen, Traditionen oder alten Mythen bezogen. Da der Mensch sich hier auf Quellen außerhalb seiner eigenen Vernünftigkeit verlässt und somit sich fremdbestimmen lässt, redet man von Heteronomie (Fremdbestimmtheit). Auch beim Verfolgen von Befehlen von höheren Autoritäten lassen sich Menschen fremdbestimmen und somit ihrer moralischen Verantwortung entziehen (denken sie zumindest). Ein Sprichwort bei manchen muslimischen Sekten verkörpert beispielhaft diese Tatsache und hat circa diese Übersetzung: „Verlass dich auf einen religiösen Gelehrten (Schaich) und sei unbesorgt!“. Man will hiermit meinen, solange du Antworten auf deine moralischen Handelsfragen von einem Schaich beziehst und nach seinem "Fatwa" bzw. religiösen Rat handelst, dann brauchst du dich um nichts Weiteres kümmern. Eine der vielen fatalen Konsequenzen jenes Irrtums gipfelt in Attentaten von Selbstmördern (Menschbomben), die eisenfest daran glauben, dass der Schaich doch die Vollverantwortung für diese Taten trägt während sie sich als angeblich „Märtyrer“ auf das himmlische Paradies freuen dürfen. Dass dabei unschuldige Menschen und paradoxaler Weise vor allem Gleichgläubiger umkommen (Iraks Fall z. B.) stört diese moralisch durch politische Fanatiker fremdbestimmten Totmacher nicht im Geringsten, obwohl der Koran wörtlich sagt: „[…] wenn jemand einen Menschen tötet – es sei denn für (Mord) an einem andern oder für Gewalttat im Land -, so soll es sein, als hatte er die ganze Menschheit getötet; und wenn jemand einem Menschen das Leben erhält, so soll es sein, als hätte er der ganzen Menschheit das Leben erhalten.“ (1) Sogar diese unmissverständliche Klarheit im religiösen Text (Koran) hilft einem nicht, der seine Freiheit nicht wahrnimmt und sich moralisch versklaven lässt. Aus der Geschichte sind die Nazi-Ideologen und ihre unzähligen Opfern ein weiteres Beispiel unter vielen, wohin die Heteronomie führen kann.
Kommen wir jetzt zum großen Philosophen der neuzeitlichen Ethik, Kant. Das Ideal der Neuzeit im Allgemeinen ist, der Vernunft das letzte Urteilen über alles im Leben zu gewähren. Kant ist ein kompromissloser Verteidiger dieses Ideal und als erster, der durch seine umfangreiche Kritiken versucht, das menschliche Vermögen „Vernunft“ umfassend zu erforschen, um ihre Macht und Grenzen zugleich aufzuzeigen.
Unter seinen vier berühmten Grundfragen (2), die alle Themenbereiche der Philosophie zusammenfassen, steht die Frage: „Was soll ich tun?“ und seine Beantwortung dieser Frage legt seine Ethikphilosophie dar (3). Er setzt bei der menschlichen Freiheit an und meint, dass allein die Tatsache, dass wir in der Lage sind, ein "Sollen" zu verstehen, zeigt, dass wir frei sind. Ein Handeln unter äußerem Zwang, also fremdbestimmt kann nach Kant moralisch nicht beurteilt werden. Daher ist seine Ethik auf die Autonomie jedes Menschen basiert und akzeptiert daher keine Ansprüche als Moralgrundlage, die nicht aus menschlicher Vernunfteinsicht hervorgehen. Auch alle Orientierungen nach "vorgefertigten" Moralwerten oder Nutzenabwägungen gehören für ihn zur Heteronomie und deswegen für eine Ethikbegründung irrelevant. Wie soll nun der freie Mensch handeln? Also, was soll er tun?
Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.“ (4).
Kant meint, nicht das, was wir tun wollen, kann als "gut" genannt werden, denn das würde heißen, das Gute ist ein uns äußerer Wert, nach dem wir zu handeln haben, sondern einzig der Wille kann "gut" charakterisiert werden, da er frei ist, nach ethischen Kriterien bestimmt und sich selbst die Handlungsgesetze vorschreibt, und diese Freiheit hat die Eigenschaft des Guten, solange sie moralisch handelt. In Kants Ethik spielt der Begriff "Freiheit" eine Schlüsselrolle. Wir verstehen Sollensansprüche als Faktum unserer Reinvernünftigkeit (5), also ist Sollen ein Aspekt unseres Vernunftskönnens. Und Können besteht aus Fähigkeiten, diese wiederum verkörpern Möglichkeiten, also Freiheit zu wählen oder sich zwischen diesen zu entscheiden. Aber was macht einen Anspruch notwendig? Hierzu schließt Kant zuerst alles aus, was nicht aus eigener Vernunft hervorgeht, also was die Freiheit widerspricht, etwa äußere Zwänge oder unsere natürliche Triebe. Dann ist alles Übrige - was nicht von außen "diktiert" oder "aufgezwungen"- unbedingt, da es unserer Freiheit entspringt. Für Kant verpflichtet sich der gute Wille, Sollensansprüche bzw. moralische Gesetze vorzugeben und umzusetzen allein aus Freiheit und für die Freiheit.
Nach diesen einleitenden Grundgedanken kann man sich dem kategorischen Imperativ Kants wenden. Der Kantische Ausdruck davon lautet: "Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte." (6) Eine andere Formulierung dieses Ansatzes finden wir in (7) und heißt so: „Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“
Nach dem wir gesehen haben, dass für Kant allein der Wille gut ist und daher sich in Freiheit Maxime im Leben vorschreibt, lesen wir aus diesem Ansatz, wie er aus Sollenssätzen, einen kategorischen Imperativ ausschöpft, indem er ein Kriterium definiert, nach dem subjektive individuelle Maxime bemessen werden, um daraus ein moralisches Gesetz gemacht werden kann. Und das Kriterium heißt, die vernünftige Überprüfung aller Maxime auf Verallgemeinerungsfähigkeit, d. h. die kritische Frage danach, ob diese Maxime für alle Menschen moralisch annehmbar wären.        
Warum spricht Kant von Imperativen? Ein Imperativ ist ein Befehl, eine zwingende Anweisung, die befolgt werden muss. Woher entspringt dieses „Müssen“?
Kant teilt die Imperativen in hypothetische und kategorische Imperative auf. Eine Zusammenfassung aller Sollenssätze nach Kant gibt das Bild unten wider. Es liegt auf der Hand, dass ein hypothetischer Imperativ in seiner Hypothese, seiner Prämisse begründet liegt, denn nur wer die Prämisse erfüllt, nimmt den Imperativ wahr. „Aufhören zu rauchen“ ist z. B. eine Voraussetzung für das Schonen der Gesundheit, obwohl der Raucher hier freiwillig bleibt, ob er diesen objektiven Imperativ umsetzt oder nicht. Wie lässt sich aber der kategorische Charakter eines kategorischen Imperativs begründen? „Kategorisch“ heißt, der Imperativ ist unbedingt, also notwendig. Kant sagt: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmenden Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir“ (8). Dieser Spruch zeigt, dass Kant denkt, den Menschen als solchen ist eine gewisse Befähigung zur Moralität angeboren, sie ist ein Charakter unseres Geschlechts. Weiterhin ist Kant dafür bekannt, dass der Mensch erst durch Erziehung zum Menschen wird und unter seinem vierstufigen Programm steht die Moralisierung als letzte Stufe (9). Die Erziehungsphase „Moralisierung“ setzt bei der in Anlage angeborenen Moralität an und lehrt den Menschen sich für gute Zwecke zu entscheiden, nach dem er diese Zwecke überprüft und zwar nach dem kantischen Maßstab der Gesetzgebung, der Verallgemeinerungsfähigkeit jener Zwecke, ob sie von jedermann akzeptiert werden und zugleich jedermanns Zwecke sein können.
Borges meint etwa, dass ein ungeheureres Labyrinth als alle kreisförmigen Labyrinthe ist ein geradliniges Labyrinth. Gilles Deleuze sagt hierzu, dass es hier zwar um ein wunderbares Wort eines Literaten geht, aber im Grunde genommen handelt es hier um einen kantischen Begriff, nämlich dass die Zeit nach ihm nicht mehr von der Bewegung abhängig ist, sondern die Bewegung ist zeitabhängig. Daher ist die Zeit seitdem nicht mehr zirkulär (etwa in Ansehung der Planetenbewegung), sondern linear, also beschreibt eine Gerade. Der Fortschritt der Menschheit zum Besseren nach Kant liegt hier begründet, dass die Zeit und damit auch das Leben nur noch geradlinig und vorwärtsverlaufen kann und zwar vom Schlechten zum Guten, zum Besseren.    
In Ansehung aller schrecklichen Kriege zumindest ab den zwei großen Weltkriegen und aller Umweltkatastrophen, die u.a. durch Nukleartechnik universales Ausmaß erreichen, sieht dieses neuzeitliche Projekt Kants unter heutigem Licht etwas blass und gutgläubig. Daher stellt sich die Frage: Sind die Probleme und Krisen der modernen Welt, die so riesig sind wie seine technologischen Möglichkeiten noch mit neuzeitlichen Kategorien und Begriffen zu denken?



Literatur:

(1): Koran, Der Tisch (Al-Máedah), Vers 32.  (www.koran-auf-deutsch.de)
(2): Die vier bekannten Grundfragen von Kant       
Was kann ich wissen?
Was soll ich tun?
Was darf ich hoffen?
Was ist der Mensch?
(3): v.a. in Kants Werken: a) Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. b) Kritik der praktischen Vernunft.
(4): Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Erster Abschnitt (www.zeno.org)
(5): GPTD 6, S. 82 f.
(6): Kant, Kritik der reinen Vernunft, GPTD 6, S. 81
(7): Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Werke 6, S. 60 f.
(8): Kant, Kritik der reinen Vernunft, zweiter Teil, Beschluß (www.zeno.org)
(9): Koller, Hans-Christian, Kants Begriff von Erziehung (www.karteikarte.com)

GPTD  = Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung
               Reclam/Stuttgart

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