Am Leitfaden des
"ich"-Sagens und des "wir"-Sagens wird das Verhältnis der
persönlichen Individualität zu den anderen dargestellt, indem gezeigt wird, was
das eine und das andere zuerst ausmacht, also wie lassen sie sich abgrenzen und
dann welchen Zusammenhang zwischen den beiden gibt, also wie lassen sie sich
korrelieren, womöglich gegenseitig bedingen.
Es
liegt auf der Hand, dass allgemeine Kategorien wie das Menschsein oder
menschliche Gattung nicht ausreichen, wenn es darum geht eine bestimmte Person
als einzigartiges Individuum im Hier und Jetzt zu beschreiben. Ab dem Moment,
wo das "ich" gesagt wird, also in einem Satz als grammatisches
Subjekt auftritt, dann ist dieser Satz eine "Offenbarung" einer
Individualität, die einmalig ist und keinem Anderen gleicht. Ob dieser Satz
originell ist oder nur eine "Floskel", die auch von anderen
wiederholt ist, ändert nichts an der Einmaligkeit dessen, was ein Individuum,
also ein Selbstbewusstsein damit verbindet oder welche persönlichen Erfahrungen
und Konnotationen speziell bei ihm hinter dieser Aussage und gar hinter jedem
Wort stecken. Die Existenzphilosophie ist das beste Beispiel, wie die persönliche
Individualität - verkörpert in dem "ich"-Sagen - durchdacht und ihr
im Leben ein hoher Stellenwert beigemissen ist. Die Reflexivität, das
Selbstbewusstsein (als Verhältnis zu uns selbst) und die Freiheit sind zwar
menschliche Eigenschaften, die aber nur Sinn machen, wenn sie auf ein
bestimmtes konkretes Individuum bezogen sind.
Wie
das „ich“-Sagen ist das „wir"-Sagen auch selbstreflexiv, wobei das
erste stets exklusiv ist, denn keiner
kann an meiner Stelle „ich“ sagen und das zweite entweder exklusiv (Sprechen über eine Gruppe, die nicht in dieses „wir“
eingeschlossen ist) oder inklusiv (wenn „ich“ innerhalb der Angesprochenen
bin) sein kann. Was die Selbstreflexivität der beiden Fälle bindet ist die
Sprecherrolle, in der der Sprecher auf sich selbst bezieht. Der Unterschied
dagegen liegt darin, dass der Sprecher beim „ich“-Sagen selbst das Subjekt des
gesprochenen Satzes ist, beim „wir“-Sagen hingegen der Gruppe von Menschen gehört,
wo sich der Sprechakt vollzieht. Das Handeln durch „wir“-Sagen lässt sich nur durch
einzelne Handlungen der Individuen verstehen, daher steckt hinter jedem
„wir“-Sagen – meiner Ansicht nach – notwendigerweise ein „ich“-Sagen, in dem
Sinne, dass z.B. „wir gehen zusammen ins Kino“ nicht anders heißt als: „ich“
schlage vor oder „ich“ meine oder etwas neutraler „ich“ stelle fest, dass wir
zusammen ins Kino gehen. Dieses Beispiel kann auf alle Alltagshandlungen
übertragen werden, die durch „wir“-Sagen hervorgerufen sind. Was ist aber mit
„wir“-Sagen, das hinter etwas „abstraktem“ steht wie z.B. „wir“ die Deutschen
oder „wir“ die Europäer oder gar „wir“ die Menschen (haben beispielsweise eine
Wirtschaftskrise)? So eine Art „wir“ holt auf den Plan die schwierige Frage
nach Identität, nach Charakterisierung, also nach allgemeinen abstrakten
Kategorien, womit die gemeinte Gruppe (z.B. hier der Deutschen, der Europäer, der
Menschen) eindeutig oder zumindest „unverwechselbar“ beschrieben bzw.
charakterisiert wird. Ohne diese Frage näher eingehen zu müssen, es liegt trotzdem
auf der Hand, dass dieses „wir“-Sagen nur stellvertretend von einem Individuum
oder einer relativ kleinen Teilgruppe (z.B. einem Autor, einer Partei, einer
Wissenschaftsgemeinschaft, einer Delegation der UNO, etc.) ausgesprochen kann,
denn niemals ist die gemeinte Gruppe gleichzeitig und in einem gleichen Ort
anwesend und einig, um „wir“ zu sagen bezüglich welcher Handlung auch immer.
Ich denke, über das „wir“-Sagen zu philosophieren geht immer zurück auf das
Philosophieren über die Frage der Definition der Gruppe, die sich selber durch
„wir“ (oder von anderen durch „ihr“) eiligst und mit dem geringsten Aufwand „bestimmen“
will. Das „wir“-Sagen grenzt immer eine Gruppe der Angesprochenen von den
übrigen Menschen ab, nämlich von „ihr“, d.h. den anderen. Das Paar „wir“/“ihr“ (oder
„wir“/“Du“) scheint kaum voneinander zu trennen, genauso wie das Paar „Ich“/“Du“
bzw. „Ich“/“Es“ (die von Buber als Grundworte gesehen sind).
Das
„wir“-Sagen kann nach diesen Überlegungen keine Vereinheitlichung der Personen
nach sich ziehen, die sich durch „wir“ bezeichnen. Die Reflexivität des
„wir“-Sagens kann nur verstanden werden unter Beachtung des „ich“-Sagens, denn
die Handlung des „wir“-Sagens erfolgt nur durch die Handlung der einzelnen Individuen,
die dahinter stecken. Die Pluralität findet gerade mit dem „wir“-Sagen ihren
Ausdruck, denn die Unterschiede zwischen Personen werden mit dem „wir“-Sagen
nicht nivelliert, sondern eher betont. Das Pronomen „wir“ stellt im strengsten
Sinne weder ein reales Handlungssubjekt noch eine Art kollektives „Ich“ dar.
Wenn ein Individuum „wir“ ausspricht, übernimmt damit eine Sprecherrolle, wobei
die anderen zugleich angesprochen und durch „wir“-Reflexivität eingeschlossen
sind. Einzelne können nur durch das „ich“ als reales Handlungssubjekt das wirkliche
Tun einleiten, mithilfe dessen auch jedes Handeln des „wir“-Sagens letztendlich
vermittelt ist.
Des
Weiteren müssen wir zwischen „wir“-Sagen in ihrem rein alltagspraktischen exklusiven
Sinn (z.B. „wir gehen Fußball spielen, was macht ihr denn?“) und einem
ausgeprägten fanatischen „Wir-Bewusstsein“ (z.B. „Wir sind doch ‚Glaubensbrüder‘,
was suchen aber diese ‚Ketzer‘ bei ‚uns‘?“) unterscheiden, denn hier liegen die
Wurzeln der kulturellen Intoleranz und daher der Fremdenfeindlichkeit. Ein
„Wir-Bewusstsein“ ist weiterhin nicht problematisch, wenn es nur dazu dient,
eine Gruppe zu binden, indem ihr eine bestimmte Identifikationsform verleiht,
wie etwa Teamgeist bei einer Fußballmannschaft oder ein politisches Programm
einer demokratischen Partei. Höchst problematisch hingegen ist eine Gruppe mit
einem diskriminierenden „Wir-Bewusstsein“, das sich durch ein exklusives
„wir“-Sagen auszeichnet, um eine klare Grenze zwischen ihr und dem Rest der
Welt zu ziehen. Dieses „wir“-Sagen verwechselt sich mit dem „Wahrheit“-Sagen in
zweierlei Weise, denn es postuliert einerseits, dass eine „Wahrheit“ im
absoluten Sinne (d.h. kultur-, zeit- und ortunabhängig) gibt und dass anderseits
eine Gruppe von Menschen sie exklusiv für sich beanspruchen kann. Ein
„Wir-Bewusstsein“, dass sich - trotz grundlegenden Differenzen zwischen seinen
Teilhabern - mit exklusivem „wir“-Sagen ausklammert und sich in einem
kollektiven „Ich“ zusammenschmiedet, ist ein (selbst)manipuliertes,
trügerisches und Realitätsfernes Bewusstsein, denn die Geschichte aller Zeiten
bringt immer wieder in Erfahrung, dass die Angehörigen solchen Bewusstseins unter
der Wirklichkeitsdynamik (d.h. dem stetigen Wandel der Randbedingungen und der
Umstände) überholt und „erwacht“ werden, meistens auch erst unter den Trümmern
einer Katastrophe.
Wie
lässt sich ein Auswegansatz finden, der solchem Bewusstsein den Nährboden wegnimmt?
Mit anderen Worten: Wie lässt sich eine „wir“-Sagen-Sozialphilosophie
begründen, die inklusiv und stets alle Menschen einschließt?
Als
Antwort auf die Frage „was bedeutet Linke zu sein?“ meint Gilles Deleuze etwa: „Es ist eine Frage der Wahrnehmung.
Klassisch denkt man - bildlich gesprochen - etwa in dieser Reihenfolge: Mein
Haus, Stadt, Land, Kontinent, Welt. Linke-Sein heißt in umgekehrter Weise zu
denken bzw. wahrzunehmen, indem man zuerst in die „Weite“ hinschaut und wissen,
dass die fernsten Probleme dieser Welt, werden morgen auch meine Probleme
sein.“ (1) Diese Art von Wahrnehmung nach Deleuze kann
einen Ansatz darstellen, wie eine politische Philosophie des „wir“-Sagens
aussehen kann, die menschheitlich orientiert ist. Deleuze ist bewusst, dass
hier nicht um eine Denkweise „belle âme“ geht, sondern um eine nüchterne realitätsgerechte Philosophie.
Dieser ‚linke‘ Ansatz nach Deleuze erinnert an den Spruch: „Global denken,
lokal handeln.“
Einen
zweiten Ansatz finden wir bei Voltaire in seinem „Dictionnaire philosophique“, wo er die Frage „Was ist Toleranz?“ etwa so beantwortet: “Es handelt sich um unsere Menschnatur. Wir sind alle schwach und
neigen uns zu irren. Daher lassen wir uns gegenseitig tolerieren und unsere
Dummheiten gegenseitig entschuldigen. Das ist das erste Prinzip des Naturgesetztes.
Das erste Prinzip aller Menschenrechte.“
Einen
dritten Ansatz, der sich auch bei menschlicher Natur gründet, können wir von
Karl Popper’s Philosophie schöpfen, nämlich aus seinem „Falsifikationsprinzip“.
Popper betont die Wichtigkeit und vor allem die Berechtigtheit des Fehlers
(bzw. des Irrtums) bei der Wahrheitssuche. Es geht bei ihm nicht nur um die
wissenschaftliche Wahrheit, sondern auch darum dass, der Mensch von Natur aus
den Fehlern ausgesetzt ist und dafür kann er nicht. Was Popper hier sagt, kann
jeder von der Geschichte insbesondere der Wissenschaft ablesen.
Voltaire
und Popper postulieren das menschliche Grundrecht auf Fehler und daher ergibt
sich, dass sich die Toleranz als der adäquate Ansatz für jede Sozial- und
politische Philosophie herausstellt. Der Dichter und Islamgelehrte Al-Shafiâi sagt: „Meine Meinung ist richtig, könnte aber wohl
falsch sein. Deine Meinung ist falsch, könnte aber wohl richtig sein.“ (2)
Unter
diesem Toleranzlichte kann das „wir“-sagen - wenn manche alltagspraktische
Aspekte bei Seite gelassen sind - nur noch im inklusiven Sinne gedacht und als
Basis für eine menschliche und menschheitliche Welt ausgesprochen werden.
Literatur
_____
(1): Abecedaire - Gilles Deleuze von A bis Z [3 DVDs], Moderatorin:
Claire Parnet
(2): Al-Shafiâi (geb. 767-
ges. 820)