24.02.2014

Das "ich"-Sagen und das "wir"-Sagen: Ein Vergleich


Am Leitfaden des "ich"-Sagens und des "wir"-Sagens wird das Verhältnis der persönlichen Individualität zu den anderen dargestellt, indem gezeigt wird, was das eine und das andere zuerst ausmacht, also wie lassen sie sich abgrenzen und dann welchen Zusammenhang zwischen den beiden gibt, also wie lassen sie sich korrelieren, womöglich gegenseitig bedingen.  

Es liegt auf der Hand, dass allgemeine Kategorien wie das Menschsein oder menschliche Gattung nicht ausreichen, wenn es darum geht eine bestimmte Person als einzigartiges Individuum im Hier und Jetzt zu beschreiben. Ab dem Moment, wo das "ich" gesagt wird, also in einem Satz als grammatisches Subjekt auftritt, dann ist dieser Satz eine "Offenbarung" einer Individualität, die einmalig ist und keinem Anderen gleicht. Ob dieser Satz originell ist oder nur eine "Floskel", die auch von anderen wiederholt ist, ändert nichts an der Einmaligkeit dessen, was ein Individuum, also ein Selbstbewusstsein damit verbindet oder welche persönlichen Erfahrungen und Konnotationen speziell bei ihm hinter dieser Aussage und gar hinter jedem Wort stecken. Die Existenzphilosophie ist das beste Beispiel, wie die persönliche Individualität - verkörpert in dem "ich"-Sagen - durchdacht und ihr im Leben ein hoher Stellenwert beigemissen ist. Die Reflexivität, das Selbstbewusstsein (als Verhältnis zu uns selbst) und die Freiheit sind zwar menschliche Eigenschaften, die aber nur Sinn machen, wenn sie auf ein bestimmtes konkretes Individuum bezogen sind.

Wie das „ich“-Sagen ist das „wir"-Sagen auch selbstreflexiv, wobei das erste  stets exklusiv ist, denn keiner kann an meiner Stelle „ich“ sagen und das zweite entweder exklusiv (Sprechen über eine Gruppe, die nicht in dieses „wir“ eingeschlossen ist) oder inklusiv (wenn „ich“ innerhalb der Angesprochenen bin) sein kann. Was die Selbstreflexivität der beiden Fälle bindet ist die Sprecherrolle, in der der Sprecher auf sich selbst bezieht. Der Unterschied dagegen liegt darin, dass der Sprecher beim „ich“-Sagen selbst das Subjekt des gesprochenen Satzes ist, beim „wir“-Sagen hingegen der Gruppe von Menschen gehört, wo sich der Sprechakt vollzieht. Das Handeln durch „wir“-Sagen lässt sich nur durch einzelne Handlungen der Individuen verstehen, daher steckt hinter jedem „wir“-Sagen – meiner Ansicht nach – notwendigerweise ein „ich“-Sagen, in dem Sinne, dass z.B. „wir gehen zusammen ins Kino“ nicht anders heißt als: „ich“ schlage vor oder „ich“ meine oder etwas neutraler „ich“ stelle fest, dass wir zusammen ins Kino gehen. Dieses Beispiel kann auf alle Alltagshandlungen übertragen werden, die durch „wir“-Sagen hervorgerufen sind. Was ist aber mit „wir“-Sagen, das hinter etwas „abstraktem“ steht wie z.B. „wir“ die Deutschen oder „wir“ die Europäer oder gar „wir“ die Menschen (haben beispielsweise eine Wirtschaftskrise)? So eine Art „wir“ holt auf den Plan die schwierige Frage nach Identität, nach Charakterisierung, also nach allgemeinen abstrakten Kategorien, womit die gemeinte Gruppe (z.B. hier der Deutschen, der Europäer, der Menschen) eindeutig oder zumindest „unverwechselbar“ beschrieben bzw. charakterisiert wird. Ohne diese Frage näher eingehen zu müssen, es liegt trotzdem auf der Hand, dass dieses „wir“-Sagen nur stellvertretend von einem Individuum oder einer relativ kleinen Teilgruppe (z.B. einem Autor, einer Partei, einer Wissenschaftsgemeinschaft, einer Delegation der UNO, etc.) ausgesprochen kann, denn niemals ist die gemeinte Gruppe gleichzeitig und in einem gleichen Ort anwesend und einig, um „wir“ zu sagen bezüglich welcher Handlung auch immer. Ich denke, über das „wir“-Sagen zu philosophieren geht immer zurück auf das Philosophieren über die Frage der Definition der Gruppe, die sich selber durch „wir“ (oder von anderen durch „ihr“) eiligst und mit dem geringsten Aufwand „bestimmen“ will. Das „wir“-Sagen grenzt immer eine Gruppe der Angesprochenen von den übrigen Menschen ab, nämlich von „ihr“, d.h. den anderen. Das Paar „wir“/“ihr“ (oder „wir“/“Du“) scheint kaum voneinander zu trennen, genauso wie das Paar „Ich“/“Du“ bzw. „Ich“/“Es“ (die von Buber als Grundworte gesehen sind).                          

Das „wir“-Sagen kann nach diesen Überlegungen keine Vereinheitlichung der Personen nach sich ziehen, die sich durch „wir“ bezeichnen. Die Reflexivität des „wir“-Sagens kann nur verstanden werden unter Beachtung des „ich“-Sagens, denn die Handlung des „wir“-Sagens erfolgt nur durch die Handlung der einzelnen Individuen, die dahinter stecken. Die Pluralität findet gerade mit dem „wir“-Sagen ihren Ausdruck, denn die Unterschiede zwischen Personen werden mit dem „wir“-Sagen nicht nivelliert, sondern eher betont. Das Pronomen „wir“ stellt im strengsten Sinne weder ein reales Handlungssubjekt noch eine Art kollektives „Ich“ dar. Wenn ein Individuum „wir“ ausspricht, übernimmt damit eine Sprecherrolle, wobei die anderen zugleich angesprochen und durch „wir“-Reflexivität eingeschlossen sind. Einzelne können nur durch das „ich“ als reales Handlungssubjekt das wirkliche Tun einleiten, mithilfe dessen auch jedes Handeln des „wir“-Sagens letztendlich vermittelt ist.    

Des Weiteren müssen wir zwischen „wir“-Sagen in ihrem rein alltagspraktischen exklusiven Sinn (z.B. „wir gehen Fußball spielen, was macht ihr denn?“) und einem ausgeprägten fanatischen „Wir-Bewusstsein“ (z.B. „Wir sind doch ‚Glaubensbrüder‘, was suchen aber diese ‚Ketzer‘ bei ‚uns‘?“) unterscheiden, denn hier liegen die Wurzeln der kulturellen Intoleranz und daher der Fremdenfeindlichkeit. Ein „Wir-Bewusstsein“ ist weiterhin nicht problematisch, wenn es nur dazu dient, eine Gruppe zu binden, indem ihr eine bestimmte Identifikationsform verleiht, wie etwa Teamgeist bei einer Fußballmannschaft oder ein politisches Programm einer demokratischen Partei. Höchst problematisch hingegen ist eine Gruppe mit einem diskriminierenden „Wir-Bewusstsein“, das sich durch ein exklusives „wir“-Sagen auszeichnet, um eine klare Grenze zwischen ihr und dem Rest der Welt zu ziehen. Dieses „wir“-Sagen verwechselt sich mit dem „Wahrheit“-Sagen in zweierlei Weise, denn es postuliert einerseits, dass eine „Wahrheit“ im absoluten Sinne (d.h. kultur-, zeit- und ortunabhängig) gibt und dass anderseits eine Gruppe von Menschen sie exklusiv für sich beanspruchen kann. Ein „Wir-Bewusstsein“, dass sich - trotz grundlegenden Differenzen zwischen seinen Teilhabern - mit exklusivem „wir“-Sagen ausklammert und sich in einem kollektiven „Ich“ zusammenschmiedet, ist ein (selbst)manipuliertes, trügerisches und Realitätsfernes Bewusstsein, denn die Geschichte aller Zeiten bringt immer wieder in Erfahrung, dass die Angehörigen solchen Bewusstseins unter der Wirklichkeitsdynamik (d.h. dem stetigen Wandel der Randbedingungen und der Umstände) überholt und „erwacht“ werden, meistens auch erst unter den Trümmern einer Katastrophe.

Wie lässt sich ein Auswegansatz finden, der solchem Bewusstsein den Nährboden wegnimmt? Mit anderen Worten: Wie lässt sich eine „wir“-Sagen-Sozialphilosophie begründen, die inklusiv und stets alle Menschen einschließt?    

Als Antwort auf die Frage „was bedeutet Linke zu sein?“ meint Gilles Deleuze etwa: „Es ist eine Frage der Wahrnehmung. Klassisch denkt man - bildlich gesprochen - etwa in dieser Reihenfolge: Mein Haus, Stadt, Land, Kontinent, Welt. Linke-Sein heißt in umgekehrter Weise zu denken bzw. wahrzunehmen, indem man zuerst in die „Weite“ hinschaut und wissen, dass die fernsten Probleme dieser Welt, werden morgen auch meine Probleme sein.“ (1) Diese Art von Wahrnehmung nach Deleuze kann einen Ansatz darstellen, wie eine politische Philosophie des „wir“-Sagens aussehen kann, die menschheitlich orientiert ist. Deleuze ist bewusst, dass hier nicht um eine Denkweise „belle âme“ geht, sondern um  eine nüchterne realitätsgerechte Philosophie. Dieser ‚linke‘ Ansatz nach Deleuze erinnert an den Spruch: „Global denken, lokal handeln.“

Einen zweiten Ansatz finden wir bei Voltaire in seinem „Dictionnaire philosophique“, wo er die Frage „Was ist Toleranz?“ etwa so beantwortet: “Es handelt sich um unsere Menschnatur. Wir sind alle schwach und neigen uns zu irren. Daher lassen wir uns gegenseitig tolerieren und unsere Dummheiten gegenseitig entschuldigen. Das ist das erste Prinzip des Naturgesetztes. Das erste Prinzip aller Menschenrechte.“

Einen dritten Ansatz, der sich auch bei menschlicher Natur gründet, können wir von Karl Popper’s Philosophie schöpfen, nämlich aus seinem „Falsifikationsprinzip“. Popper betont die Wichtigkeit und vor allem die Berechtigtheit des Fehlers (bzw. des Irrtums) bei der Wahrheitssuche. Es geht bei ihm nicht nur um die wissenschaftliche Wahrheit, sondern auch darum dass, der Mensch von Natur aus den Fehlern ausgesetzt ist und dafür kann er nicht. Was Popper hier sagt, kann jeder von der Geschichte insbesondere der Wissenschaft ablesen.

Voltaire und Popper postulieren das menschliche Grundrecht auf Fehler und daher ergibt sich, dass sich die Toleranz als der adäquate Ansatz für jede Sozial- und politische Philosophie herausstellt. Der Dichter und Islamgelehrte Al-Shafiâi sagt: „Meine Meinung ist richtig, könnte aber wohl falsch sein. Deine Meinung ist falsch, könnte aber wohl richtig sein.“ (2)
Unter diesem Toleranzlichte kann das „wir“-sagen - wenn manche alltagspraktische Aspekte bei Seite gelassen sind - nur noch im inklusiven Sinne gedacht und als Basis für eine menschliche und menschheitliche Welt ausgesprochen werden.


Literatur

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(1): Abecedaire - Gilles Deleuze von A bis Z [3 DVDs], Moderatorin: Claire Parnet
(2): Al-Shafiâi (geb. 767- ges. 820)

 

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