24.02.2014

Warum kann man die Sprache zugleich als universal und als individuell ansehen?


Der Mensch hat zuerst die mündliche Sprache erfunden. In einem zweiten Schritt wurden die Schriften entwickelt, um die Sprache zu schreiben. Gesprochen oder geschrieben bezweckt die Sprache in erster Linie die Kommunikation zwischen Menschen. Wie kann das Kommunizieren hier verstanden werden?

Erstens müssen die Menschen miteinander Sachverhalte direkt teilen, also einander etwas sagen, etwa informieren, versprechen, bitten, befehlen, bedrohen, Gefühle ausdrücken, Geschichten erzählen, erklären, usw. Zweitens wenn der Mensch etwas schreibt, will er auch v.a. etwas mit anderen Kommunizieren, also etwa indirekt Botschaften oder Briefe zukommen lassen, eine Vereinbarung festhalten, Wissen dokumentieren und so fort. Bei geschriebener Sprache scheint der Archiv- oder Dokumentationscharakter, d.h. die Aufbewahrung über Zeit und Ort hinweg des Gesagten oder Mitgeteilten wesentlich. Bei diesem Aspekt der zwischen-menschlichen Kommunikation erfüllt die Sprache eine universale Funktion. Sie gewährleitet mündliche Dialoge und schriftliche Mitteilungen zwischen Menschen. Ein Dialog erfolgt mindestens zwischen zwei Menschen. Aber auch wenn der Mensch die Sprache als Werkzeug des Denkens benutzt, ist er im „Dialog“ mit sich selbst, davon abgesehen ob er dabei schweigt, „murmelt“, laut spricht oder schreibt. In diesem Fall zeigt sich die individuelle Dimension der Sprache für einen Menschen. Denn um zu denken muss sich der Mensch äußern, also sich mithilfe der Sprache seine Gedankeninhalte ‚vor‘-stellen, also „nach Außen oder vor Auge bringen“, indem er gleichzeitig passende Worte wählt, Sätze formuliert und schriftlich oder im Gedächtnis alles „festhält“ und so drauf bauend weiter denkt bzw. Gedanken produziert. Bei dem Doppelaspekt der Sprache als universal und individuell lässt sich kaum vorstellen, diese zwei Dimensionen auseinander zu halten und getrennt zu denken. Eher scheint hier eine Dynamik oder Dialektik zwischen den beiden Aspekten der Fall zu sein, denn ein Mensch ist nur sprachfähig, weil er in einer Gemeinschaft lebt, die wiederum nur durch Sprache zur Gemeinschaft wird.  

Grundsätzlich lässt sich jede Sprache in andere Sprachen übersetzen und ihr Regelwerk sogar von denjenigen nachvollziehen, die sie nicht beherrschen, was für ihre universale Dimension spricht. Gleichzeitig ist eine Sprache nur schwer in eine andere übersetzbar, denn Sprachen sind sehr kulturabhängig und da die Kulturen sehr verschieden sind, bleiben viele Eigentümlichkeiten einer Sprache aller anderen Sprachen mehr oder minder verschlossen (je nach Ursprungsnähe oder -ferne).

Desweiteren „färbt“ jedes Individuum seine Muttersprache anders ein als alle anderen, die mit ihm die gleiche Muttersprache teilen. Da Menschen im Grunde unterschiedlich sind, eignet sich jeder seine Sprache anders. Wenn wir Texte von Autoren lesen, die in der gleichen Muttersprache aufgewachsen sind, stellen wir schnellst fest, wie eigenartig sie sich ausdrücken, sogar wenn sie den gleichen Sachverhalt behandeln oder beschreiben. Auch umgangssprachlich reden Menschen (z. B. die Deutschen) sehr verschieden, indem sie ihre eigenen Sätze bauen, bestimme Worte bevorzugen, anders artikulieren oder betonen usw. All das zeigt, dass Sprachen sehr individuell sein können, jedoch ohne, dass sie jemals „Privatsprachen“ werden. Wittgenstein hat eindeutig gezeigt, dass die letzten schlicht unmöglich sind. 

Wir leben und denken in Sprachen, die vorerst von anderen vor uns geschaffen sind, aber von uns selbst stets neu erschaffen bzw. bereichert werden, indem wir mit unserer eigenen Art und Weise zu sprechen und schreiben beitragen. Wir sind sozusagen Konsumenten der Sprache aber auch zugleich ihre Schaffer. Insbesondere sind Sprachkünstler wie Poeten oder Literaten die großen Schaffern von „Sprache“, nicht im Sinne von einer völlig neuen Sprache, sondern indem sie zu einer vorhandenen Sprache Neues hinzufügen, was Stil, d. h. Syntax bzw. Satzbau, Umdeutung bekannter Wörter und womöglich Erfindung neuer Begriffe angeht. In diesem Fall der Sprachkunst zeigt sich der individuelle Aspekt einer Sprache am besten, wenngleich auch beachtet werden muss, dass die Syntax als Teil der Grammatik gerade dem Regelwerk einer Sprache gehört, das eher auf den universalen, also allgemein verstehbaren Charakter hinweist. In diesem Zusammenhang von Begriffserschaffung unterscheidet Gille Deleuze drei Hauptkonzepten, nämlich Begriff (bzw. Konzept), „Perzept“ und „Affekt“. Ihm zufolge sind „Begriffe“ von Philosophen geschaffen, um bestimmte Probleme denken oder möglicherweise diese Probleme überhaut erkennen zu können. Er definiert sogar die Philosophie, indem er dieser Disziplin, die Aufgabe zuspricht, die Probleme zu bestimmen, die einen Sinn haben und die Begriffe zu erschaffen, die uns helfen, diese Probleme zu lösen oder zumindest besser zu verstehen. Ein „Perzept“ hingegen ist eine Art Sammlung von Perzeptionen oder Wahrnehmungen, die v.a. von großen Künstlern etwa Malern oder Schriftstellern aufgenommen und in Werken zeitunabhängig, also verewigt gemacht sind. Sie beantworten damit nach Deleuze etwa die Frage „Was passiert mit bestimmten und besonderen „Perzeptionen“, die jemand in Hier und Jetzt erlebt, nachdem einige Zeit vergangen ist?“. Und letztens ist ein „Affekt“ der Ausdruck von manchen Sensationen und Ektasen, die wir erleben und uns für eine bestimmte Dauer „außer uns bringen“, unser Staunen wecken und uns völlig „überfordern“. Er denkt, dass v.a. die Musiker so etwas können. Ihm (Deleuze) ist die Wechselwirkung oder Abhängigkeit zwischen diesen drei Konzepten natürlich bewusst. Er meint, dass es eher um eine Akzent- oder Betonungsfrage geht als um eine scharfe Abgrenzung und dass er sich sogar eine „zirkuläre Bewegung“ zwischen „Begriff“, „Perzept“ und „Affekt“ vorstellen kann.

Wenn wir Sprache auf alles erweitern, womit sich Menschen äußern, dann sind „Begriffe“, „Perzepte“ und „Affekte“ (im Sinne von Deleuze) ein gutes Beispiel wie die Sprache gleichzeitig etwas Individuelles und Universales verkörpern kann, indem sie erstens für einen kreativen Menschen zur "Baustelle" wird, wo er durch Sprache die Welt denkt, "versteht", neu interpretiert und sich dadurch individualisiert, also "wird, was er ist". Und zweitens ist sie das Medium, mit dem er den anderen alles mitteilen kann, was er denkt und neu kreiert und somit, der Sprache und der Menschheit einen Dienst leistet.  

Der Philosoph Wilhelm von Humboldt unterscheidet zwischen dem Werk- und Tätigkeitscharakter (gr. „Ergon“ und „Energeia“) der Sprache, um zwischen ihrer instrumentellen und pragmatischen Dimension im Leben und ihrer lebendigen und lebensschaffenden Dimension auseinander zu halten und v.a. den letzten Aspekt hervorzuheben und hochzupreisen. Die Sprache als „Energeia“ ist für den menschlichen Geist wie eine Art „Brennstoff“ oder „Energiequelle“, die ihm sein sprachliches Entfalten in einer Gesellschaft ermöglicht und diese Gesellschaft selbst bildet und als solche zusammenhält.

„Die Sprache ist gleichsam die äußerliche Erscheinung des Geistes der Völker; ihre Sprache ist ihr Geist und ihr Geist ist ihre Sprache, man kann sich beide nie identisch genug denken.“ (1)           


Die neuen Forschungen aus der Neurologie stimmen mit Humboldts Sichtweise überein, denn sie zeigen, wie eine bestimmte Sprache z. B. das Gehirn eines Kindes anders beeinflusst als eine andere Sprache. Kinder, die z. B. Englisch lernen, erhalten andere Spuren und Entwicklungen im Gehirn zum Vergleich mit Kindern, die eine andere Sprache lernen wie Chinesisch beispielsweise (2).
Die Verschiedenheit der kultur- und völkerbedingen Sprachen, auch wenn sie stets durch individuelle sowie universale Dimension gekennzeichnet sind, sprechen gegen die neuzeitliche Sichtweise einer auf Vernunft basierten Einheit der Menschen, wenngleich diese Einheit vom Humboldt auch nicht aufgegeben ist, sondern lediglich anders begründet ist: „Denn so wundervoll ist in der Sprache die Individualisierung innerhalb der allgemeinen Übereinstimmung, daß man ebenso richtig sagen kann, daß das ganze Menschengeschlecht nur eine Sprache, als daß jeder Mensch eine besondere besitzt.“ (3)
 
 
Literatur
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(1): Humboldt, GPTD VII, S.67

(2): B. Stiegler (www.Pharmakon.fr) berichtet über Varina Wolf, M.D. Neurologe

(3): Humboldt, GPTD VII, S.77
 
 

 

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