Humboldt bleibt auf der Linie von
Herder und interpretiert Kultur und Geschichte der Menschheit als Ergebnis
individuell wirkungsvoller Formenergien. Der Formbegriff spielt bei Humboldt
eine wichtige Rolle. Er versteht die Formen (auch für ihn gleichgesetzt mit
„Ideen“) als innere Formungskräfte, die zu den unterschiedlichen kulturellen
Gestalten führen. Die Kulturerrungenschaften sieht er als Ausdruck von „Ideen“,
die eine Art Wirkungsenergie darstellen. Zwischen dem ganzen Kulturprozess bzw.
der Geschichte und den individuellen Gestaltungskräften sieht Humboldt eine
Analogie. Daher denkt er, dass die Geschichtsschreibung gerade bei dieser
Analogie bzw. Entsprechung ansetzt, wenn es darum geht, den ideellen
Zusammenhang der Geschichte darzustellen. Humboldt zieht eine Parallele
zwischen Organismen, die sich aus innerem biologischem Formprinzip herausbilden
und menschlichen Charakteren (Geschichtsakteuren), die sich in der Kultur als
Form-Individuen ergeben. Diese Charaktere können einzelne Menschen (Individuen)
oder auch menschliche Gemeinschaften wie etwa Nationen sein. Trotz der
Verschiedenheit der Kulturerscheinungen kann der Historiker aufgrund der
Einheit der Formprinzipien (also der Ideen) die in dieser Kulturen wirkenden
menschheitlichen Formgesetze ermitteln. In der Geschichtsphilosophie Humboldts
ist die Sprache ein Zentralthema, denn er sieht sie „als eine eigentümliche
Form der Erzeugung und Mitteilung von Ideen“ (1). Für ihn ist die Sprache
das Charakteristikum einer Nation schlechthin: „Die Sprache ist gleichsam
die äußerliche Erscheinung des Geistes der Völker; ihre Sprache ist ihr Geist
und ihr Geist ist ihre Sprache, man kann sich beide nie identisch genug denken.“
(2) Die Sprache ist weitgehend mehr als ein System von Zeichen, sie ist eine
Energie (gr.Energeia, nicht Werk, gr.Ergon), ein Formvorgang, kulturelle
Wirklichkeit, schaffende Wirksamkeit. „Sprache ist das bildende Organ der
Gedanken.“ (3). Sprachphilosophisch versucht Humboldt das menschlich
Gemeinsame herauszuarbeiten, indem er das Begriffspaar „Form“ und „Stoff“
unterscheidet. Die Vielfalt und Verschiedenheit der Kulturen spiegelt den
Stoff, die faktischen Sprachelemente, den Ausdruck verschiedener Völker wider.
In der „Methode der Sprachbildung“ (4), den Bildungsgesetzen der
Sprache und deren inneren Gestaltungsform als energetischem Wirkprinzip - nicht
aber in einer universalen Sprachstruktur oder Ursprache - ist die Einheit bzw.
die Allgemeinheit der Sprache und Kultur zu suchen. „Denn so wundervoll ist in der Sprache die
Individualisierung innerhalb der allgemeinen Übereinstimmung, daß man ebenso
richtig sagen kann, daß das ganze Menschengeschlecht nur eine Sprache, als daß
jeder Mensch eine besondere besitzt.“ (5)
Cassirer gehört den Philosophen, die
aus der Kultur einen Grundansatz der Philosophie machen. Wenn die Kultur den
Inbegriff aller menschlichen Machenschaften darstellt, dann sind Philosophie
und Wissenschaft auch kulturelle Bestandteile. Cassirer will die Kritik der
Vernunft Kants zu einer Kritik der Kultur erweitern, da er denkt, dass unsere
Erlebnisse mehr als das ist, was nur durch die Epistemologie zu klären ist, denn
dazu gehört auch alles, wie wir unsere verschiedene geistige Funktionen ausdrücken
und die Wirklichkeit gestalten. Für ihn sollen wir uns nicht mit
wissenschaftlicher Erkenntnis begnügen, sondern das „Erleben“ zum neuen
Leitbegriff erheben, wenn wir ein Weltverständnis anstreben wollen. Er spricht
von „symbolischen Formen“, um die verschiedenen kulturellen Perspektiven über
die Wirklichkeit zu bezeichnen. Daher entwirft er seine „Philosophie der
symbolischen Formen“, um sich mit der Kultur als menschlichem Gesamtwerk
auseinander zu setzen. Unter Symbol versteht er jede Bedeutung eines geistigen
Ausdrucks, die sinnlich erfahrbar sein kann. Damit wird jede kulturelle
Perspektive zu einer symbolischen Form. Er unterscheidet beispielsweise als
symbolische Formen oder Lebenswelten: Sprache, Mythos, Religion, Kunst,
Geschichte, Wissenschaft, Politik, die für ihn grundsätzlich verschieden sind,
d.h. wieder voneinander ableitbar noch auf einander reduzierbar sind. Daher
spielt die Pluralität der Formen im Kulturleben in Cassirer’s Philosophie eine
Schlüsselrolle.
Wenn Humboldt von der „Form“ als ein
Wirkprinzip bzw. innere Gestaltungsenergie, also als bildende Kraftspricht, sieht
Cassirer hingegen die „Form“ als kulturell werdende symbolische Perspektive auf
die Wirklichkeit an, also als gebildete eigenständige „Lebenswelt“, die für
sich steht und eine originäre menschliche geistige Funktion zum Ausdruck
bringt. Humboldt definiert und benutzt den Formbegriff, um die Verschiedenheit
zwischen Sprachen und Kulturen zu denken und herauszuarbeiten, worin deren
Einheit liegen kann. Cassirer verfolgt mit seinem Formbegriff aber das Ziel,
die wissenschaftliche Erkenntnis zu erweitern, indem er feststellt, dass wir
mehr erleben als wir nur erkenntnistheoretisch klären können und daher alle
Lebensperspektive bzw. symbolische Formen, wozu die Wissenschaft auch gehört,
beachten zwecks eines besseren Wirklichkeitsverständnisses.
„Nur in [...] dynamischen Gleichnissen, nicht
in irgendwelchen statischen Bildern läßt sich die Form als werdende Form, [...]
beschreiben. Wie die scholastische Metaphysik den Gegensatz zwischen dem
Begriff der ,naturanaturata‘
und der ,natura naturans‘
geprägt hat, so muß die Philosophie der symbolischen Formen zwischen der ,forma formans‘ und der ,forma formata‘ unterscheiden. Das
Wechselspiel zwischen beiden macht erst den Pendelschlag des geistigen Lebens
selbst aus. Die ,forma formans‘,
die zur ,forma formata‘ wird,
die um ihrer eigenen Selbstbehauptung willen zu ihr werden muß, die aber
nichtsdestoweniger in ihr niemals gänzlich aufgeht, sondern die Kraft behält,
sich aus ihr zurückzugewinnen, sich zur ,forma
formans‘wiederzugebären – dies ist es, was das Werden des Geistes und
das Werden der Kultur bezeichnet.“ (6)
_____
Literatur:
(1): GPTD VII, S. 59f.
(2): GPTD VII, S. 67
(3): GPTD VII, S.79
(4): GPTD VII, S.76
(5): GPTD VII, S. 77
(6): Ernst Cassirer, "Zur Metaphysik
der symbolischen Formen"
GPTD = Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung, Reclam/Stuttgart
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