05.04.2015

Die Bedeutung des Begriffs „Form“ bei Humboldt und Cassirer. Ein Vergleich



Humboldt bleibt auf der Linie von Herder und interpretiert Kultur und Geschichte der Menschheit als Ergebnis individuell wirkungsvoller Formenergien. Der Formbegriff spielt bei Humboldt eine wichtige Rolle. Er versteht die Formen (auch für ihn gleichgesetzt mit „Ideen“) als innere Formungskräfte, die zu den unterschiedlichen kulturellen Gestalten führen. Die Kulturerrungenschaften sieht er als Ausdruck von „Ideen“, die eine Art Wirkungsenergie darstellen. Zwischen dem ganzen Kulturprozess bzw. der Geschichte und den individuellen Gestaltungskräften sieht Humboldt eine Analogie. Daher denkt er, dass die Geschichtsschreibung gerade bei dieser Analogie bzw. Entsprechung ansetzt, wenn es darum geht, den ideellen Zusammenhang der Geschichte darzustellen. Humboldt zieht eine Parallele zwischen Organismen, die sich aus innerem biologischem Formprinzip herausbilden und menschlichen Charakteren (Geschichtsakteuren), die sich in der Kultur als Form-Individuen ergeben. Diese Charaktere können einzelne Menschen (Individuen) oder auch menschliche Gemeinschaften wie etwa Nationen sein. Trotz der Verschiedenheit der Kulturerscheinungen kann der Historiker aufgrund der Einheit der Formprinzipien (also der Ideen) die in dieser Kulturen wirkenden menschheitlichen Formgesetze ermitteln. In der Geschichtsphilosophie Humboldts ist die Sprache ein Zentralthema, denn er sieht sie „als eine eigentümliche Form der Erzeugung und Mitteilung von Ideen“ (1). Für ihn ist die Sprache das Charakteristikum einer Nation schlechthin: „Die Sprache ist gleichsam die äußerliche Erscheinung des Geistes der Völker; ihre Sprache ist ihr Geist und ihr Geist ist ihre Sprache, man kann sich beide nie identisch genug denken.“ (2) Die Sprache ist weitgehend mehr als ein System von Zeichen, sie ist eine Energie (gr.Energeia, nicht Werk, gr.Ergon), ein Formvorgang, kulturelle Wirklichkeit, schaffende Wirksamkeit. „Sprache ist das bildende Organ der Gedanken.“ (3). Sprachphilosophisch versucht Humboldt das menschlich Gemeinsame herauszuarbeiten, indem er das Begriffspaar „Form“ und „Stoff“ unterscheidet. Die Vielfalt und Verschiedenheit der Kulturen spiegelt den Stoff, die faktischen Sprachelemente, den Ausdruck verschiedener Völker wider. In der „Methode der Sprachbildung“ (4), den Bildungsgesetzen der Sprache und deren inneren Gestaltungsform als energetischem Wirkprinzip - nicht aber in einer universalen Sprachstruktur oder Ursprache - ist die Einheit bzw. die Allgemeinheit der Sprache und Kultur zu suchen.  Denn so wundervoll ist in der Sprache die Individualisierung innerhalb der allgemeinen Übereinstimmung, daß man ebenso richtig sagen kann, daß das ganze Menschengeschlecht nur eine Sprache, als daß jeder Mensch eine besondere besitzt.“ (5)

Cassirer gehört den Philosophen, die aus der Kultur einen Grundansatz der Philosophie machen. Wenn die Kultur den Inbegriff aller menschlichen Machenschaften darstellt, dann sind Philosophie und Wissenschaft auch kulturelle Bestandteile. Cassirer will die Kritik der Vernunft Kants zu einer Kritik der Kultur erweitern, da er denkt, dass unsere Erlebnisse mehr als das ist, was nur durch die Epistemologie zu klären ist, denn dazu gehört auch alles, wie wir unsere verschiedene geistige Funktionen ausdrücken und die Wirklichkeit gestalten. Für ihn sollen wir uns nicht mit wissenschaftlicher Erkenntnis begnügen, sondern das „Erleben“ zum neuen Leitbegriff erheben, wenn wir ein Weltverständnis anstreben wollen. Er spricht von „symbolischen Formen“, um die verschiedenen kulturellen Perspektiven über die Wirklichkeit zu bezeichnen. Daher entwirft er seine „Philosophie der symbolischen Formen“, um sich mit der Kultur als menschlichem Gesamtwerk auseinander zu setzen. Unter Symbol versteht er jede Bedeutung eines geistigen Ausdrucks, die sinnlich erfahrbar sein kann. Damit wird jede kulturelle Perspektive zu einer symbolischen Form. Er unterscheidet beispielsweise als symbolische Formen oder Lebenswelten: Sprache, Mythos, Religion, Kunst, Geschichte, Wissenschaft, Politik, die für ihn grundsätzlich verschieden sind, d.h. wieder voneinander ableitbar noch auf einander reduzierbar sind. Daher spielt die Pluralität der Formen im Kulturleben in Cassirer’s Philosophie eine Schlüsselrolle.

Wenn Humboldt von der „Form“ als ein Wirkprinzip bzw. innere Gestaltungsenergie, also als bildende Kraftspricht, sieht Cassirer hingegen die „Form“ als kulturell werdende symbolische Perspektive auf die Wirklichkeit an, also als gebildete eigenständige „Lebenswelt“, die für sich steht und eine originäre menschliche geistige Funktion zum Ausdruck bringt. Humboldt definiert und benutzt den Formbegriff, um die Verschiedenheit zwischen Sprachen und Kulturen zu denken und herauszuarbeiten, worin deren Einheit liegen kann. Cassirer verfolgt mit seinem Formbegriff aber das Ziel, die wissenschaftliche Erkenntnis zu erweitern, indem er feststellt, dass wir mehr erleben als wir nur erkenntnistheoretisch klären können und daher alle Lebensperspektive bzw. symbolische Formen, wozu die Wissenschaft auch gehört, beachten zwecks eines besseren Wirklichkeitsverständnisses.          

Nur in [...] dynamischen Gleichnissen, nicht in irgendwelchen statischen Bildern läßt sich die Form als werdende Form, [...] beschreiben. Wie die scholastische Metaphysik den Gegensatz zwischen dem Begriff der ,naturanaturata‘ und der ,natura naturans‘ geprägt hat, so muß die Philosophie der symbolischen Formen zwischen der ,forma formans‘ und der ,forma formata‘ unterscheiden. Das Wechselspiel zwischen beiden macht erst den Pendelschlag des geistigen Lebens selbst aus. Die ,forma formans‘, die zur ,forma formata‘ wird, die um ihrer eigenen Selbstbehauptung willen zu ihr werden muß, die aber nichtsdestoweniger in ihr niemals gänzlich aufgeht, sondern die Kraft behält, sich aus ihr zurückzugewinnen, sich zur ,forma formans‘wiederzugebären – dies ist es, was das Werden des Geistes und das Werden der Kultur bezeichnet.“ (6)
 
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Literatur:
(1): GPTD VII, S. 59f.
(2): GPTD VII, S. 67
(3): GPTD VII, S.79
(4): GPTD VII, S.76
(5): GPTD VII, S. 77
(6): Ernst Cassirer, "Zur Metaphysik der symbolischen Formen"
 
GPTD = Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung, Reclam/Stuttgart

 

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