12.06.2013

Die Bedeutung des Lustbegriffs für die Ethik bei Aristoteles und Immanuel Kant. Ein Vergleich



Der Lustbegriff spielt eine Zentralrolle bei der Grundlegung von einigen ethischen Theorien. Aristoteles hält Lust und Unlust für die wichtigsten Handlungsmotive. Er denkt, dass der Mensch grundsätzlich das vermeidet, was für ihn mit Unlust verbunden ist und tut hingegen das, was ihm Lust bereitet. „Ferner ist die Lust mit uns allen von Kindesbeinen an verwachsen, daher es schwer hält, dieses durch das Leben in uns festgewurzelte Gefühl abzustreifen. Auch machen wir, die einen mehr die anderen weniger, Lust und Unlust zur Richtschnur unserer Handlungen. Diese beiden Gefühle sind darum notwendig die Angelpunkte unserer ganzen Theorie.“ (1)
Ist Lust für Aristoteles ein absolutes „Gut“ oder spricht etwas dagegen für ihn, wenn der Mensch derart handelt, nämlich luststrebend und unlustvermeidend? Nun, es gibt in diesem Zusammenhang noch einen Begriff, der für diesen Philosophen entscheidend ist und zwar „arete“ (dt. Tugend). Der Mensch kann zwar lustmotivierend handeln, also Tätigkeiten eingehen, die ihm Lust bringen, aber er soll zugleich und stets tugendhaft bleiben, was für ihn nichts anderes heißt als ausgewogen, angemessen, also ohne Übermaß oder Mangel, mit einem Wort: der rechten Mitte gemäß zu handeln.
Das Gebot der rechten Mitte liegt für Aristoteles in der Sache selbst begründet, denn jedes Übermaß am Genießen kehrt notwendigerweise zu seinem Gegenteil um, nämlich zur Unlust und gleiches gilt für jeden Mangel. „[…] so lässt sich das Einzelne und Konkrete noch weniger genaue und absolut gültige Vorschriften zu, da es unter keine Kunst und keine Lehrüberlieferung fällt. […] Zuerst kommt in Betracht, dass Dinge dieser Art ihrer Natur nach durch Mangel und Übermaß zugrunde gehen.“ (2) Das Übertreiben beim Sport beispielsweise führt ans Ziel der Gesundheit vorbei und kann schädlich sein und genauso wird es auch mit einem Mangel an Körperbetätigung. Der Grundbegriff „Lust“ als Handlungstrieb wird bei Aristoteles nur mit Tugendhaftigkeit verbunden auch zum Ziel der dauerhaften Glückseligkeit leiten, ansonsten wird eher die Unlust der finale Lohn sein. „Desgleichen wird wer jede Lust genießt und sich keiner enthält, zügellos, wer aber jede Lust flieht, wie die sauertöpfischen Leute, verfällt in eine Art Stumpfsinn.“ (3)
Es stellt sich noch die Frage: Das „Gute“ tun ist nicht immer lustbringend und manchmal ist das „Schlechte“ mit Lust verbunden. Also was tun in solchen Situationen? Nach Aristoteles als Philosoph des Werdens hilft hier die Erziehung von Kind an, denn die Tugendhaftigkeit ist dem Menschen nicht angeboren. Allein der Habitus (Gewohnheit/Gewöhnung) an tugendhaften Handlungen, sich daran üben und angewöhnen, Lust bei dem Guten zu empfinden, wo manchmal Unlust lauern würde und Unlust beim Schlechten zu spüren, wo möglicherweise Lust anlocken könnte. „Der Lust wegen tun wir ja das sittlich Schlechte, und der Unlust wegen unterlassen wir das Gute. Darum muss man, wie Plato sagt, von der ersten Kindheit an einigermaßen dazu angeleitet worden sein, über dasjenige Lust und Unlust zu empfinden, worüber man soll. Denn das ist die rechte Erziehung.“ (4)
Aus diesen Ausführungen geht eine klare Feststellung hervor, dass der Lustbegriff eine Schlüsselrolle in der aristotelischen Ethikkonzeption spielt. Selbst wenn er die Tugend zu einem zentralen Regulationsfaktor bzw. Korrektiven für das menschliche Handeln erhebt, bleiben "Lust" und "Unlust" letztendlich die Hauptbeweggründe menschlichen Tuns und Unterlassens.
Kant geht mit dem Lustbegriff ganz anders vor als Aristoteles. Als Philosoph der neuzeitlichen Aufklärung, will Kant die Ethik auf ein solides Fundament bauen. Da die Vernunft in der Neuzeit besonders hoch gepriesen ist, denkt Kant, dass seine Ethiktheorie nicht weniger sicher entworfen sein muss als eine wissenschaftliche Theorie. Moralische Sätze, die etwas voraussetzen, damit sie überhaupt zur Geltung kommen sind hypothetisch, also für ihn bloße praktische Maxime, die noch lange keinen Rang eines praktischen Gesetzes erreichen, wie es bei Naturgesetzen der Fall ist. Dass Lust und Unlust von Mensch zu Mensch anders empfunden sein können ist Kant durchaus bewusst und daher für ihn nicht in Frage kommen kann, eine ethische Theorie auf solche willkürliche Handlungsmotive zu gründen. Sein Vorhaben ist ungeheuer, nämlich ethische Gesetze zu begründen, die genauso gelten müssen wie die Naturgesetze. Was der Philosoph hier ankündigt ist eine Riesenverheißung, ein großes Projekt mit dem unverkennbaren spezifischen „Beigeschmack“ der Neuzeit. Newton hat der Menschheit den Schlüssel in die Hand gedrückt, wie das ganze Universum physikalisch funktioniert - denkt man damals zumindest - und Kant als sein Leser will uns kein kleineres Versprechen geben als, unseres menschlichen Funktionierens bzw. Handels logisch zu beleuchten. Hierzu denkt er über die Ursache, die unser Handeln als Wirkung hat und somit sind wir - wie die Natur auch - dem Diktat der Kausalität unterliegt. Heißt das nicht, dass wir determiniert sind, also ohne Freiheit? Kants Antwort ist: Nein! Denn hier herrscht eine andere Art Kausalität als bei der Natur, nämlich eine Kausalität aus Freiheit. Wenn die Naturkausalität (etwa Objekte fallen notwendigerweise unter Schwerkraft) dem Determinismus im Naturgeschehen entspringt, bei menschlichem Handeln ist hingegen eine Kausalität am Werk, die von der menschlichen Freiheit ausgeht, denn nach Kant ist eine Ethik ohne Freiheit nicht denkbar.        
Da das Ziel Kants darin liegt, seine Ethiktheorie auf eine solide Basis zu entwerfen, beginnt er im Lehrsatz I (5) zu zeigen, warum es nicht geht, aus dem Lustbegriff ein praktisches Gesetz abzuleiten.
Alle praktische Prinzipien, die ein Objekt (Materie) des Begehrungsvermögens, als Bestimmungsgrund des Willens, voraussetzen, sind insgesamt empirisch und können keine praktische Gesetze abgeben.“ (5)
In dieser Aussage schickt Kant voraus, dass praktische Gesetze nicht aus etwas Empirischem abgeleitet werden können. Indem er seinen Lehrsatz kommentiert, hält er die Lust - betrachtet als eine Bedingung der Möglichkeit der Bestimmung der Willkür - für eine Voraussetzung, wenn es darum geht, den Bestimmungsgrund des Willen, also des Handelns zu ermitteln. „Es kann aber von keiner Vorstellung irgend eines Gegenstandes, welche sie aus sei, a priori erkannt werden, ob sie mit Lust oder Unlust verbunden, oder indifferent sein werde. Also muß in solchem Falle der Bestimmungsgrund der Willkür jederzeit empirisch sei, mithin auch das praktische materiale Prinzip, welches ihn als Bedingung voraussetzte.“ (6)
Weiterhin ist die Lustbestimmung nicht nur empirisch, sondern auch lediglich subjektiv und daher nicht für alle Vernunftwesen gelten kann. „Da nun (zweitens) ein Prinzip, dass sich nur auf die subjektive Bedingung der Empfänglichkeit einer Lust oder Unlust […] gründet, zwar wohl für das Subjekt, das sie besitzt, zu ihrer Maxime, aber auch für diese selbst (weil es ihm an objektiver Notwendigkeit, die a priori erkannt werden muß, mangelt) nicht zum Gesetze dienen kann, so kann ein solches Prinzip niemals ein praktisches Gesetz abgeben.“ (7)
Darüber hinaus betrachtet Kant die Lust aus einem anderen Blickpunkt, sie gründet sich auf der Empfänglichkeit des Subjekts und „mithin gehört sie dem Sinne (Gefühl) und nicht dem Versande an, der eine Beziehung der Vorstellung auf ein Objekt, nach Begriffen, aber nicht auf das Subjekt, nach Gefühlen, ausdrückt.“ (8)
Da die Lust nur empirisch und subjektiv zu ermitteln ist, mit Gefühlen verbunden und nicht mit dem Versand, kann sie für eine Ethikbegründung nicht infrage kommen, weder um moralische Normen (Kant spricht von praktischen Gesetzen) für den Einzelnen noch für die Gesellschaft.
Die nächste Aufgabe beschäftigt sich mit dem Ethikfundieren bei Kant.

Literatur:

(1): Aristoteles, Nikomachische Ethik, GPTD I, S. 276
(2): Aristoteles, Nikomachische Ethik, GPTD I, S. 273
(3): Aristoteles, Nikomachische Ethik, GPTD I, S. 274
(4): Aristoteles, Nikomachische Ethik, GPTD I, S. 275
(5): Kant, Kritik der reinen Vernunft, GPTD VI, S. 067
(6): Kant, Kritik der reinen Vernunft, GPTD VI, S. 068
(7): Kant, Kritik der reinen Vernunft, GPTD VI, S. 068
(8): Kant, Kritik der reinen Vernunft, GPTD VI, S. 068

GPTD  = Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung
               Reclam/Stuttgart
 

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