24.02.2014

Das "ich"-Sagen und das "wir"-Sagen: Ein Vergleich


Am Leitfaden des "ich"-Sagens und des "wir"-Sagens wird das Verhältnis der persönlichen Individualität zu den anderen dargestellt, indem gezeigt wird, was das eine und das andere zuerst ausmacht, also wie lassen sie sich abgrenzen und dann welchen Zusammenhang zwischen den beiden gibt, also wie lassen sie sich korrelieren, womöglich gegenseitig bedingen.  

Es liegt auf der Hand, dass allgemeine Kategorien wie das Menschsein oder menschliche Gattung nicht ausreichen, wenn es darum geht eine bestimmte Person als einzigartiges Individuum im Hier und Jetzt zu beschreiben. Ab dem Moment, wo das "ich" gesagt wird, also in einem Satz als grammatisches Subjekt auftritt, dann ist dieser Satz eine "Offenbarung" einer Individualität, die einmalig ist und keinem Anderen gleicht. Ob dieser Satz originell ist oder nur eine "Floskel", die auch von anderen wiederholt ist, ändert nichts an der Einmaligkeit dessen, was ein Individuum, also ein Selbstbewusstsein damit verbindet oder welche persönlichen Erfahrungen und Konnotationen speziell bei ihm hinter dieser Aussage und gar hinter jedem Wort stecken. Die Existenzphilosophie ist das beste Beispiel, wie die persönliche Individualität - verkörpert in dem "ich"-Sagen - durchdacht und ihr im Leben ein hoher Stellenwert beigemissen ist. Die Reflexivität, das Selbstbewusstsein (als Verhältnis zu uns selbst) und die Freiheit sind zwar menschliche Eigenschaften, die aber nur Sinn machen, wenn sie auf ein bestimmtes konkretes Individuum bezogen sind.

Wie das „ich“-Sagen ist das „wir"-Sagen auch selbstreflexiv, wobei das erste  stets exklusiv ist, denn keiner kann an meiner Stelle „ich“ sagen und das zweite entweder exklusiv (Sprechen über eine Gruppe, die nicht in dieses „wir“ eingeschlossen ist) oder inklusiv (wenn „ich“ innerhalb der Angesprochenen bin) sein kann. Was die Selbstreflexivität der beiden Fälle bindet ist die Sprecherrolle, in der der Sprecher auf sich selbst bezieht. Der Unterschied dagegen liegt darin, dass der Sprecher beim „ich“-Sagen selbst das Subjekt des gesprochenen Satzes ist, beim „wir“-Sagen hingegen der Gruppe von Menschen gehört, wo sich der Sprechakt vollzieht. Das Handeln durch „wir“-Sagen lässt sich nur durch einzelne Handlungen der Individuen verstehen, daher steckt hinter jedem „wir“-Sagen – meiner Ansicht nach – notwendigerweise ein „ich“-Sagen, in dem Sinne, dass z.B. „wir gehen zusammen ins Kino“ nicht anders heißt als: „ich“ schlage vor oder „ich“ meine oder etwas neutraler „ich“ stelle fest, dass wir zusammen ins Kino gehen. Dieses Beispiel kann auf alle Alltagshandlungen übertragen werden, die durch „wir“-Sagen hervorgerufen sind. Was ist aber mit „wir“-Sagen, das hinter etwas „abstraktem“ steht wie z.B. „wir“ die Deutschen oder „wir“ die Europäer oder gar „wir“ die Menschen (haben beispielsweise eine Wirtschaftskrise)? So eine Art „wir“ holt auf den Plan die schwierige Frage nach Identität, nach Charakterisierung, also nach allgemeinen abstrakten Kategorien, womit die gemeinte Gruppe (z.B. hier der Deutschen, der Europäer, der Menschen) eindeutig oder zumindest „unverwechselbar“ beschrieben bzw. charakterisiert wird. Ohne diese Frage näher eingehen zu müssen, es liegt trotzdem auf der Hand, dass dieses „wir“-Sagen nur stellvertretend von einem Individuum oder einer relativ kleinen Teilgruppe (z.B. einem Autor, einer Partei, einer Wissenschaftsgemeinschaft, einer Delegation der UNO, etc.) ausgesprochen kann, denn niemals ist die gemeinte Gruppe gleichzeitig und in einem gleichen Ort anwesend und einig, um „wir“ zu sagen bezüglich welcher Handlung auch immer. Ich denke, über das „wir“-Sagen zu philosophieren geht immer zurück auf das Philosophieren über die Frage der Definition der Gruppe, die sich selber durch „wir“ (oder von anderen durch „ihr“) eiligst und mit dem geringsten Aufwand „bestimmen“ will. Das „wir“-Sagen grenzt immer eine Gruppe der Angesprochenen von den übrigen Menschen ab, nämlich von „ihr“, d.h. den anderen. Das Paar „wir“/“ihr“ (oder „wir“/“Du“) scheint kaum voneinander zu trennen, genauso wie das Paar „Ich“/“Du“ bzw. „Ich“/“Es“ (die von Buber als Grundworte gesehen sind).                          

Das „wir“-Sagen kann nach diesen Überlegungen keine Vereinheitlichung der Personen nach sich ziehen, die sich durch „wir“ bezeichnen. Die Reflexivität des „wir“-Sagens kann nur verstanden werden unter Beachtung des „ich“-Sagens, denn die Handlung des „wir“-Sagens erfolgt nur durch die Handlung der einzelnen Individuen, die dahinter stecken. Die Pluralität findet gerade mit dem „wir“-Sagen ihren Ausdruck, denn die Unterschiede zwischen Personen werden mit dem „wir“-Sagen nicht nivelliert, sondern eher betont. Das Pronomen „wir“ stellt im strengsten Sinne weder ein reales Handlungssubjekt noch eine Art kollektives „Ich“ dar. Wenn ein Individuum „wir“ ausspricht, übernimmt damit eine Sprecherrolle, wobei die anderen zugleich angesprochen und durch „wir“-Reflexivität eingeschlossen sind. Einzelne können nur durch das „ich“ als reales Handlungssubjekt das wirkliche Tun einleiten, mithilfe dessen auch jedes Handeln des „wir“-Sagens letztendlich vermittelt ist.    

Des Weiteren müssen wir zwischen „wir“-Sagen in ihrem rein alltagspraktischen exklusiven Sinn (z.B. „wir gehen Fußball spielen, was macht ihr denn?“) und einem ausgeprägten fanatischen „Wir-Bewusstsein“ (z.B. „Wir sind doch ‚Glaubensbrüder‘, was suchen aber diese ‚Ketzer‘ bei ‚uns‘?“) unterscheiden, denn hier liegen die Wurzeln der kulturellen Intoleranz und daher der Fremdenfeindlichkeit. Ein „Wir-Bewusstsein“ ist weiterhin nicht problematisch, wenn es nur dazu dient, eine Gruppe zu binden, indem ihr eine bestimmte Identifikationsform verleiht, wie etwa Teamgeist bei einer Fußballmannschaft oder ein politisches Programm einer demokratischen Partei. Höchst problematisch hingegen ist eine Gruppe mit einem diskriminierenden „Wir-Bewusstsein“, das sich durch ein exklusives „wir“-Sagen auszeichnet, um eine klare Grenze zwischen ihr und dem Rest der Welt zu ziehen. Dieses „wir“-Sagen verwechselt sich mit dem „Wahrheit“-Sagen in zweierlei Weise, denn es postuliert einerseits, dass eine „Wahrheit“ im absoluten Sinne (d.h. kultur-, zeit- und ortunabhängig) gibt und dass anderseits eine Gruppe von Menschen sie exklusiv für sich beanspruchen kann. Ein „Wir-Bewusstsein“, dass sich - trotz grundlegenden Differenzen zwischen seinen Teilhabern - mit exklusivem „wir“-Sagen ausklammert und sich in einem kollektiven „Ich“ zusammenschmiedet, ist ein (selbst)manipuliertes, trügerisches und Realitätsfernes Bewusstsein, denn die Geschichte aller Zeiten bringt immer wieder in Erfahrung, dass die Angehörigen solchen Bewusstseins unter der Wirklichkeitsdynamik (d.h. dem stetigen Wandel der Randbedingungen und der Umstände) überholt und „erwacht“ werden, meistens auch erst unter den Trümmern einer Katastrophe.

Wie lässt sich ein Auswegansatz finden, der solchem Bewusstsein den Nährboden wegnimmt? Mit anderen Worten: Wie lässt sich eine „wir“-Sagen-Sozialphilosophie begründen, die inklusiv und stets alle Menschen einschließt?    

Als Antwort auf die Frage „was bedeutet Linke zu sein?“ meint Gilles Deleuze etwa: „Es ist eine Frage der Wahrnehmung. Klassisch denkt man - bildlich gesprochen - etwa in dieser Reihenfolge: Mein Haus, Stadt, Land, Kontinent, Welt. Linke-Sein heißt in umgekehrter Weise zu denken bzw. wahrzunehmen, indem man zuerst in die „Weite“ hinschaut und wissen, dass die fernsten Probleme dieser Welt, werden morgen auch meine Probleme sein.“ (1) Diese Art von Wahrnehmung nach Deleuze kann einen Ansatz darstellen, wie eine politische Philosophie des „wir“-Sagens aussehen kann, die menschheitlich orientiert ist. Deleuze ist bewusst, dass hier nicht um eine Denkweise „belle âme“ geht, sondern um  eine nüchterne realitätsgerechte Philosophie. Dieser ‚linke‘ Ansatz nach Deleuze erinnert an den Spruch: „Global denken, lokal handeln.“

Einen zweiten Ansatz finden wir bei Voltaire in seinem „Dictionnaire philosophique“, wo er die Frage „Was ist Toleranz?“ etwa so beantwortet: “Es handelt sich um unsere Menschnatur. Wir sind alle schwach und neigen uns zu irren. Daher lassen wir uns gegenseitig tolerieren und unsere Dummheiten gegenseitig entschuldigen. Das ist das erste Prinzip des Naturgesetztes. Das erste Prinzip aller Menschenrechte.“

Einen dritten Ansatz, der sich auch bei menschlicher Natur gründet, können wir von Karl Popper’s Philosophie schöpfen, nämlich aus seinem „Falsifikationsprinzip“. Popper betont die Wichtigkeit und vor allem die Berechtigtheit des Fehlers (bzw. des Irrtums) bei der Wahrheitssuche. Es geht bei ihm nicht nur um die wissenschaftliche Wahrheit, sondern auch darum dass, der Mensch von Natur aus den Fehlern ausgesetzt ist und dafür kann er nicht. Was Popper hier sagt, kann jeder von der Geschichte insbesondere der Wissenschaft ablesen.

Voltaire und Popper postulieren das menschliche Grundrecht auf Fehler und daher ergibt sich, dass sich die Toleranz als der adäquate Ansatz für jede Sozial- und politische Philosophie herausstellt. Der Dichter und Islamgelehrte Al-Shafiâi sagt: „Meine Meinung ist richtig, könnte aber wohl falsch sein. Deine Meinung ist falsch, könnte aber wohl richtig sein.“ (2)
Unter diesem Toleranzlichte kann das „wir“-sagen - wenn manche alltagspraktische Aspekte bei Seite gelassen sind - nur noch im inklusiven Sinne gedacht und als Basis für eine menschliche und menschheitliche Welt ausgesprochen werden.


Literatur

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(1): Abecedaire - Gilles Deleuze von A bis Z [3 DVDs], Moderatorin: Claire Parnet
(2): Al-Shafiâi (geb. 767- ges. 820)

 

Warum kann man die Sprache zugleich als universal und als individuell ansehen?


Der Mensch hat zuerst die mündliche Sprache erfunden. In einem zweiten Schritt wurden die Schriften entwickelt, um die Sprache zu schreiben. Gesprochen oder geschrieben bezweckt die Sprache in erster Linie die Kommunikation zwischen Menschen. Wie kann das Kommunizieren hier verstanden werden?

Erstens müssen die Menschen miteinander Sachverhalte direkt teilen, also einander etwas sagen, etwa informieren, versprechen, bitten, befehlen, bedrohen, Gefühle ausdrücken, Geschichten erzählen, erklären, usw. Zweitens wenn der Mensch etwas schreibt, will er auch v.a. etwas mit anderen Kommunizieren, also etwa indirekt Botschaften oder Briefe zukommen lassen, eine Vereinbarung festhalten, Wissen dokumentieren und so fort. Bei geschriebener Sprache scheint der Archiv- oder Dokumentationscharakter, d.h. die Aufbewahrung über Zeit und Ort hinweg des Gesagten oder Mitgeteilten wesentlich. Bei diesem Aspekt der zwischen-menschlichen Kommunikation erfüllt die Sprache eine universale Funktion. Sie gewährleitet mündliche Dialoge und schriftliche Mitteilungen zwischen Menschen. Ein Dialog erfolgt mindestens zwischen zwei Menschen. Aber auch wenn der Mensch die Sprache als Werkzeug des Denkens benutzt, ist er im „Dialog“ mit sich selbst, davon abgesehen ob er dabei schweigt, „murmelt“, laut spricht oder schreibt. In diesem Fall zeigt sich die individuelle Dimension der Sprache für einen Menschen. Denn um zu denken muss sich der Mensch äußern, also sich mithilfe der Sprache seine Gedankeninhalte ‚vor‘-stellen, also „nach Außen oder vor Auge bringen“, indem er gleichzeitig passende Worte wählt, Sätze formuliert und schriftlich oder im Gedächtnis alles „festhält“ und so drauf bauend weiter denkt bzw. Gedanken produziert. Bei dem Doppelaspekt der Sprache als universal und individuell lässt sich kaum vorstellen, diese zwei Dimensionen auseinander zu halten und getrennt zu denken. Eher scheint hier eine Dynamik oder Dialektik zwischen den beiden Aspekten der Fall zu sein, denn ein Mensch ist nur sprachfähig, weil er in einer Gemeinschaft lebt, die wiederum nur durch Sprache zur Gemeinschaft wird.  

Grundsätzlich lässt sich jede Sprache in andere Sprachen übersetzen und ihr Regelwerk sogar von denjenigen nachvollziehen, die sie nicht beherrschen, was für ihre universale Dimension spricht. Gleichzeitig ist eine Sprache nur schwer in eine andere übersetzbar, denn Sprachen sind sehr kulturabhängig und da die Kulturen sehr verschieden sind, bleiben viele Eigentümlichkeiten einer Sprache aller anderen Sprachen mehr oder minder verschlossen (je nach Ursprungsnähe oder -ferne).

Desweiteren „färbt“ jedes Individuum seine Muttersprache anders ein als alle anderen, die mit ihm die gleiche Muttersprache teilen. Da Menschen im Grunde unterschiedlich sind, eignet sich jeder seine Sprache anders. Wenn wir Texte von Autoren lesen, die in der gleichen Muttersprache aufgewachsen sind, stellen wir schnellst fest, wie eigenartig sie sich ausdrücken, sogar wenn sie den gleichen Sachverhalt behandeln oder beschreiben. Auch umgangssprachlich reden Menschen (z. B. die Deutschen) sehr verschieden, indem sie ihre eigenen Sätze bauen, bestimme Worte bevorzugen, anders artikulieren oder betonen usw. All das zeigt, dass Sprachen sehr individuell sein können, jedoch ohne, dass sie jemals „Privatsprachen“ werden. Wittgenstein hat eindeutig gezeigt, dass die letzten schlicht unmöglich sind. 

Wir leben und denken in Sprachen, die vorerst von anderen vor uns geschaffen sind, aber von uns selbst stets neu erschaffen bzw. bereichert werden, indem wir mit unserer eigenen Art und Weise zu sprechen und schreiben beitragen. Wir sind sozusagen Konsumenten der Sprache aber auch zugleich ihre Schaffer. Insbesondere sind Sprachkünstler wie Poeten oder Literaten die großen Schaffern von „Sprache“, nicht im Sinne von einer völlig neuen Sprache, sondern indem sie zu einer vorhandenen Sprache Neues hinzufügen, was Stil, d. h. Syntax bzw. Satzbau, Umdeutung bekannter Wörter und womöglich Erfindung neuer Begriffe angeht. In diesem Fall der Sprachkunst zeigt sich der individuelle Aspekt einer Sprache am besten, wenngleich auch beachtet werden muss, dass die Syntax als Teil der Grammatik gerade dem Regelwerk einer Sprache gehört, das eher auf den universalen, also allgemein verstehbaren Charakter hinweist. In diesem Zusammenhang von Begriffserschaffung unterscheidet Gille Deleuze drei Hauptkonzepten, nämlich Begriff (bzw. Konzept), „Perzept“ und „Affekt“. Ihm zufolge sind „Begriffe“ von Philosophen geschaffen, um bestimmte Probleme denken oder möglicherweise diese Probleme überhaut erkennen zu können. Er definiert sogar die Philosophie, indem er dieser Disziplin, die Aufgabe zuspricht, die Probleme zu bestimmen, die einen Sinn haben und die Begriffe zu erschaffen, die uns helfen, diese Probleme zu lösen oder zumindest besser zu verstehen. Ein „Perzept“ hingegen ist eine Art Sammlung von Perzeptionen oder Wahrnehmungen, die v.a. von großen Künstlern etwa Malern oder Schriftstellern aufgenommen und in Werken zeitunabhängig, also verewigt gemacht sind. Sie beantworten damit nach Deleuze etwa die Frage „Was passiert mit bestimmten und besonderen „Perzeptionen“, die jemand in Hier und Jetzt erlebt, nachdem einige Zeit vergangen ist?“. Und letztens ist ein „Affekt“ der Ausdruck von manchen Sensationen und Ektasen, die wir erleben und uns für eine bestimmte Dauer „außer uns bringen“, unser Staunen wecken und uns völlig „überfordern“. Er denkt, dass v.a. die Musiker so etwas können. Ihm (Deleuze) ist die Wechselwirkung oder Abhängigkeit zwischen diesen drei Konzepten natürlich bewusst. Er meint, dass es eher um eine Akzent- oder Betonungsfrage geht als um eine scharfe Abgrenzung und dass er sich sogar eine „zirkuläre Bewegung“ zwischen „Begriff“, „Perzept“ und „Affekt“ vorstellen kann.

Wenn wir Sprache auf alles erweitern, womit sich Menschen äußern, dann sind „Begriffe“, „Perzepte“ und „Affekte“ (im Sinne von Deleuze) ein gutes Beispiel wie die Sprache gleichzeitig etwas Individuelles und Universales verkörpern kann, indem sie erstens für einen kreativen Menschen zur "Baustelle" wird, wo er durch Sprache die Welt denkt, "versteht", neu interpretiert und sich dadurch individualisiert, also "wird, was er ist". Und zweitens ist sie das Medium, mit dem er den anderen alles mitteilen kann, was er denkt und neu kreiert und somit, der Sprache und der Menschheit einen Dienst leistet.  

Der Philosoph Wilhelm von Humboldt unterscheidet zwischen dem Werk- und Tätigkeitscharakter (gr. „Ergon“ und „Energeia“) der Sprache, um zwischen ihrer instrumentellen und pragmatischen Dimension im Leben und ihrer lebendigen und lebensschaffenden Dimension auseinander zu halten und v.a. den letzten Aspekt hervorzuheben und hochzupreisen. Die Sprache als „Energeia“ ist für den menschlichen Geist wie eine Art „Brennstoff“ oder „Energiequelle“, die ihm sein sprachliches Entfalten in einer Gesellschaft ermöglicht und diese Gesellschaft selbst bildet und als solche zusammenhält.

„Die Sprache ist gleichsam die äußerliche Erscheinung des Geistes der Völker; ihre Sprache ist ihr Geist und ihr Geist ist ihre Sprache, man kann sich beide nie identisch genug denken.“ (1)           


Die neuen Forschungen aus der Neurologie stimmen mit Humboldts Sichtweise überein, denn sie zeigen, wie eine bestimmte Sprache z. B. das Gehirn eines Kindes anders beeinflusst als eine andere Sprache. Kinder, die z. B. Englisch lernen, erhalten andere Spuren und Entwicklungen im Gehirn zum Vergleich mit Kindern, die eine andere Sprache lernen wie Chinesisch beispielsweise (2).
Die Verschiedenheit der kultur- und völkerbedingen Sprachen, auch wenn sie stets durch individuelle sowie universale Dimension gekennzeichnet sind, sprechen gegen die neuzeitliche Sichtweise einer auf Vernunft basierten Einheit der Menschen, wenngleich diese Einheit vom Humboldt auch nicht aufgegeben ist, sondern lediglich anders begründet ist: „Denn so wundervoll ist in der Sprache die Individualisierung innerhalb der allgemeinen Übereinstimmung, daß man ebenso richtig sagen kann, daß das ganze Menschengeschlecht nur eine Sprache, als daß jeder Mensch eine besondere besitzt.“ (3)
 
 
Literatur
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(1): Humboldt, GPTD VII, S.67

(2): B. Stiegler (www.Pharmakon.fr) berichtet über Varina Wolf, M.D. Neurologe

(3): Humboldt, GPTD VII, S.77
 
 

 

Wie ist die Aussage zu verstehen, dass die Kultur die Natur des Menschen sei?


Wegen seiner biologischen mangelhaften Ausstattung ist der Mensch im Gegenteil zur Tierwelt nicht in der Lage zu überleben allein kraft seines Körpers. Die Unsicherheit seiner animalischen Triebe ermöglicht ihm nicht, sich in einer natürlichen Umwelt im zoologischen Sinne zu behaupten und sich durchzusetzen. Nach seiner Geburt ist der Mensch das einzige Tier, der gänzlich und Jahrelang auf erwachsenen Menschen (z. B. Eltern) angewiesen ist, um zu überleben. Die Betrachtung von menschlichen Säuglingen zeigt offensichtlich, wie sie im Sitzen schnell das Gleichgewicht verlieren, in allen Richtungen hilflos kippen/fallen und meistens nicht von sich selbst wieder aufrecht sitzen oder auf den Rücken zurückkommen, geschweige sich in irgend einer Weise behilflich sein zu können, was Essen, Trinken oder Pflegen usw. angeht. Diese große Abhängigkeit von den anderen dauert mehrere Jahre, bis ein Kind überhaupt etwas mit „sich anfangen“ kann. Hingegen versuchen Neugeborene z. B. bei Saugtieren schon in den ersten Minuten und Stunden auf eigene Beine zu kommen und suchen sehr bald ihre Nahrung in welcher Form auch immer (z. B. Muttermilch). Auch als Erwachsene ist der Mensch gegenüber rohe Natur- und Tierwelt nicht ohne weiteres überlebensfähig. Die Natur (oder Gott) hat aber dem Menschen mit einem relativ größeren und intelligenteren Gehirn versehen (*), das ihm in die Lage versetzt, sich seinen biologischen Nachteilen zu stellen, indem er sich durch „Technik“ im weitesten Sinn unterstützt. Im Laufe seiner unzähligen Jahrhunderten Lebensgeschichte hat der Mensch alle möglich denkbaren „Werkzeuge“ zuerst von der Natur (z. B. Steine, Baumteile, Tierknocken, Tierhaut, usw.) benutzt und nach und nach diese „Hilfsmittel“ weiterentwickelt und verfeinert bis er auch – ausgehend von Rohstoffen - selber welche herstellen kann (Töpferei, Seilen/Textilien aus Wolle oder Pflanzen, Eisenteile, Messer, Schwerte, usw.). Diese Entwicklung gilt für „Hilfsmittel“ zu seinem Schutz gegen Naturphänomene (wie Regen, Kälte, Hitze, Wind, u.ä.m.), gegen Raubtiere oder anderen ihm fremden Menschen wie auch für die Suche und Vorbereitung seiner Nahrung und später auch für den Ackerbau, den man übrigens auch „Kultur“ nennt. Eine genaue Betrachtung aller Unternehmungen des Menschen für sein Überleben, die v.a. darauf basiert sind, dass er ein denkfähiges Lebewesen ist, zeigt, dass er zugleich ein Natur- und Kulturgeschöpf ist. Wie jedes andere Tier muss er seine natürlichen Bedürfnisse wie Hunger, Durst, Sexualität, Schutz, u.v.m. erfüllen, aber wie er das tut, nämlich durch Hilfe von technischen Mitteln, macht aus ihm ein künstliches Geschöpf, also das Kulturwesen schlechthin. Dank seiner noetischen Natur, seiner Vorstellungskraft und Vernunft bleibt der Mensch nicht bei der Erfüllung der lebensnotwendigen Bedürfnisse stehen, sondern geht Schritt nach dem anderen weiter v.a. nach der Entwicklung der mündlichen Sprache und später der Schriften und Ziffern, um hohe Kulturformen zu entwickeln, die ihm Unterhaltung, Kommunikation, Gedächtnisbewahrung über Generationen hinweg und kommerziellen Austausch mit anderen verschaffen. Nietzsche sagt von der Sprache, dass sie die erste menschliche Bemühung um die Wissenschaft. Und so konnte der Mensch schreiben und rechnen lernen, Geschichte erzählen, Mythologien erfinden und später Mathematik, Medizin, Religion, Musik und alles, was den Menschen bis heute kennzeichnet. Als Naturkind wie alle Lebewesen ist der Mensch seiner Mutternatur treu geblieben, was seine biologischen Ansprüche angeht, aber dank seiner Denkfähigkeit entwickelt er sich zu dem Kulturwesen per Exzellenz, wobei Natur und Kultur bei ihm nicht als zwei Entwicklungsstufen anzusehen sind, die zeitlich nacheinander und getrennt anzureihen sind, sondern eher als einen Doppelaspekt zu verstehen, der ihn von Anfang an begleitet, so dass man sagen kann, die Kultur ist die zweite Natur bei dem Menschen, da seine Kulturbemühung in erster Stelle eine notwendige Kompensation seiner Naturdefizite früher wie heute ist, wenn auch heutzutage vieles als Überfluss oder auch als Luxus bis Reinverschwendung von Naturressourcen scheint, was der Mensch kulturmäßig, also technisch, wissenschaftlich oder künstlich schafft.    

Kommentar zum Thema "Mensch als Mängelwesen":

Logisch wie es klingt, dass die Kultur beim Menschen liegt darin begründet, seine biologischen Schwächen und Unzulänglichkeiten auszugleichen, halte ich diesen Gesichtspunkt trotzdem für unzureichend, das menschliche Kulturschafen zu untermauern. Der Mensch musste doch anfangs überleben, bevor er sich in seiner Umwelt einrichten konnte, denn die aller ersten Menschen auf Erde haben es geschafft, sich gegenüber Naturherausforderungen und andere Lebewesen durchzusetzen, sonst hätten sie nicht überlebt und daher wäre offenbar die Menschheit heute nicht da. Ich denke, dass der Mensch eher genauso lebensfähig zur Welt kann, wie alle andere Tiere, die überleben konnten, aber erst mit der Zeit und dank seiner "Geistigkeit" konnte er nach und nach seine Umwelt organisieren, um effizienter, sicherer und angenehmer zu leben, was wiederum dazu allmählich geführt hat, dass er die Fähigkeiten verliert, die er nicht mehr benötigt, wie der Volksmund sagt: "Wer rastet, der rostet". Wir beobachten z. B. täglich, wie die wilden und starken Eigenschaften bei Haustieren zurückgehen, nach dem sie nicht mehr benutzen und sie sich sicher und nicht mehr bedroht fühlen. Hingegen gewinnen Menschen z. B. durch langjährigen Sport neue Fähigkeiten wie scharfe Reflexe, genaue Reaktionen gegen Fremdangriffe und enorme Kraft insbesondere bei Kampfkünsten. Ich denke hier v.a. an berühmten (legendären) Sportmeistern, die Kampfdisziplinen selbst erfunden oder weiterentwickelt haben, obwohl es schwer denkbar, dass ein individueller Mensch in seinem relativ kurzen Leben, alles zurückerobert, was die Menschheit in Millionen Jahren an Naturtalente stückweise verlernt und verliert hat. Der Mensch konnte im Laufe der Jahrhunderten seine 'Überlebensnaturwaffen' allmählich aufgegeben als er sie nicht mehr nötig hat und nach dem er sie durch sein Kulturschaffen (zumindest im materiellen Sinne) ersetzt hat. Anderseits wusste schon Aristoteles, dass der Mensch mehr braucht als "Brot", um zu leben, denn er hält die Vernünftigkeit bei den Menschen auch als Bedürfnis, die genauso befriedigt werden muss wie die biologischen Bedürfnisse und denkt infolgedessen z. B., dass das philosophische Leben (bios theoretikos) am glücklichsten sein solle, weil er seine Freiheit und Vernunftfähigkeit am meisten beansprucht. Die Kultur als der exklusive Aspekt des Menschseins schlechthin ist für mich nicht nur eine Antwort auf die Frage der biologischen "Unzulänglichkeiten", sondern zugleich eine Antwort auf das menschliche Streben, sich selbst stets zu transzendieren, sonst wäre etwas wie Kunst, Musik, Mathematik und u. ä. m. nicht gegeben, die zumindest am Anfang keine direkte Antwort auf biologische Bedürfnisse waren.


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(*) Nach Wissenschaftlern soll sich das menschliche Gehirn auch stets entwickelt haben (in Größe und Effizienz) und dies aufgrund v.a. von gekochtem Fleisch (nach der Entdeckung des Feuers). Wenn der Mensch mit „Denkfähigkeit“ ausgestattet war, gering wie sie auch anfangs sein mochte, und die er immer weiterentwickelte (Not und Gefahr machen erfinderisch; Versuch und Irrtum), dann ist der Mensch – so gesehen – von vornherein gar nicht benachteiligt war, sonst hätte er evidenter Weise gar nicht überleben können. Im Gegenteil, er schaffte sogar allmählich ein Herrschaftsverhältnis zur Tierwelt und in vielen Hinsichten auch zur Natur insgesamt, wenn wir von den großen Naturphänomenen wie z. B. den Wetterherausforderungen oder Erdbeben absehen, die die menschliche Kultur (in diesem Fall v.a. Wissenschaft und Technik) überfordern.  

Drei Beispiele anthropologischer Schichtenmodelle


A) Platon

Von der Antike bis heute ist die Charakterisierung aller Dimensionen des Menschseins problematisch; eine Tatsache, die sich in dem Entwicklungsversuch von verschiedenen Schichtenmodellen widerspiegelt.

Das erste Schichtenmodell, das bis heute noch anhaltente Einflüsse ausübt, stammt von Platon. Basierend auf der alten Idee der Seelenwanderung, postuliert er die Unsterblichkeit der Seele, die sich nach ihm an die unwandelbare Welt der Ideen (Ideenwelt) erinnert und in der wandelbaren Erscheinungswelt lebt und gefangen bleibt bis der Tod des Körpers sie davon auslöst bzw. befreit. Platons berühmte Allegorie von dem Wagen, der durch zwei widerstrebende Pferde gezogen und einen Wagenlenker geleitet ist, deutet jeweilig auf die drei Seelenschichten bei dem Menschen hin, nämlich Begierde, Mut und Vernunft, wobei Platon der letzten ein Herrschaftsverhältnis zu den anderen zuspricht und damit ihr die Aufgabe zuordnet, das Gleichgewicht zwischen den widerstreitenden Kräften herzustellen. Er hat weiterhin seine Staatstheorie auf diesem Schichtenmodell konstruiert, indem er die Bürger in drei Schichten aufteilt. Die untere Schicht besteht aus denjenigen (Bauern, Handwerkern, …usw.), die für die Gesellschaft alles produzieren, was sie braucht. Die Zwischenschicht bildet die Wächter, denen die Aufgabe der Verteidigung und Aufrechterhaltung der Ordnung obliegt. Und letztens die obere Schicht der Philosophen kümmert sich um die Politik und die Gesetzgebung. Diese platonische Utopie kann dem Spannungsverhältnis zwischen den verschieden Dimensionen des Menschseins nicht gerecht sein, wie noch viele andere Schichtenmodelle zeigen. Man wirft Platon vor u.a., dass er der erste Theoretiker eines totalitären politischen Systems war, so Karl Popper. Platon hat darüber hinaus die Theologie im Christentum und dann später im Islam beeinflusst, und diese wiederum sind mit vielen unmenschlichen Taten gebunden wie etwa der mittelalterlichen Inquisition oder den Kriegen unter Religionsflaggen von früher und heute.

Dass Platon auch die legendären und lehrreichen Dialoge von Sokrates so eloquent und fesselnd für die Menschheit verewigt hat, zählt jedenfalls für ihn. Andere denken sogar, dass die ganze abendländische Philosophie nur Glossen am Rande Platons Philosophie.

B) Descartes

Die neuzeitliche Aufklärung bringt u.a. Descartes auf den Plan, der mit seinem dualistischen Schichtenmodell bis in die Gegenwart auswirkt. Die Wirklichkeit des Menschseins nach ihm lässt sich in zwei Entitäten aufteilen, nämlich eine materielle (ausgedehnte Substanz bzw. res extensa) und eine immaterielle (denkfähige Substanz bzw. res cogitans), was anthropologisch gesprochen nichts anders bedeutet als den Körper und den Geist. Wie üblich stellt sich die Frage der Wechselwirkung bei einem Dualismus, der einen Parallelismus (strenge Separation) zwischen Körper und Geist voraussetzt, nämlich wie wirkt der Geist auf die Körperwelt aus und umgekehrt. Der neuzeitliche Mechanismus geht davon aus, dass jede Köperbewegung nur durch eine physikalische Ursache, also durch einen anderen Körperanstoß betätigt sein kann. Daher wird eine Interaktion zwischen Geist (als nicht-materieller Entität) und menschlichem Körper schwer denkbar. Der Okkasionalismus etwa nimmt Gott als Vermittler zwischen den beiden an, was heute kaum noch vertreten wird. Im Vorbild der Neuzeit führt die dualistische Unterscheidung von Descartes u.a. zur Betrachtung des menschlichen Körpers als eine Maschine, was wiederum seine mechanistische Analyse ermöglicht und der Medizin einen befreienden Schwung gegen alle mittelalterlichen Tabuisierungen (wie etwa Sezessionsverbot des Leichnams) verschafft.

Eine weitere wissenschaftlich sehr interessante Entwicklung heute, die sich auch von der neuzeitlichen Maschinenmetaphorik inspiriert, besteht in den neurophysiologischen Forschungen und insbesondere welcher, die sich speziell mit der sog. künstlichen Intelligenz beschäftigt. Die Gehirnwissenschaftler leihen bei der Informatik die Terminologien von „Hardware“ und „Software“ aus, um die jeweiligen ähnlichen Funktionen von Gehirn und Bewusstsein darzustellen. Wenn die Programmierung von Hardware durch Software erfolgt, kann man in ähnlicher Weise von Körperprogrammierung durch den Geist sprechen? Die Beantwortung dieser Frage ist noch umstritten, öffnet jedoch die Perspektive zu weiteren Forschungen, die eine Bestimmung der Geistwirklichkeit immer näher kommen. Ob Geistzustände nicht mehr als neurophysiologische Zustände sind oder doch unterliegen geistige Funktionen eigenen Gesetzlichkeiten ist eine spannende Sache, die Gehirnforschungen und deren Ergebnissen heute große Bedeutung verleiht.

C) Sigmund Freud     

Nachdem wir zwei Schichtenmodelle gesehen haben, jeweils aus der Antike und der Neuzeit, widmen wir uns jetzt an einem dritten Beispiel aus der modernen Zeit, nämlich dem Schichtenmodell von Freud. Der Vater der Psychoanalyse entwirft ein dreiteiliges Schichtenmodell, um das menschliche „psychologische Apparat“ zu beschreiben. Er unterscheidet zwischen dem bewussten Leben und reserviert dafür den Begriff "Ich" und dem unbewussten Triebleben - das übrigens nach ihm den größten Einfluss auf den Menschen ausübt - und bezeichnet dies mit dem Begriff "Es". Es handelt sich hierzu um alle Triebe, Bedürfnisse und Affekte, die den Menschen unwillentlich zum Handeln bewegen, wie etwa Hunger, Sexualtrieb, Angst, Hass, Liebe, Neid, Verdrängtes usw. Und schließlich kommt die oberste Stufe, die aus verinnerlichten Moralwerten, Weltbildern und Erziehungskonditionierungen besteht und von Freud als "Über-Ich" konzipiert ist. Diese Stufe übernimmt nach ihm eine Überwachungsrolle, wie wir uns verhalten und kann als die „innere Stimme“ bzw. „innerer Beobachter“ verstanden werden, der uns stets begleitet und unser Handeln nach moralischen Vorstellungen beurteilt, wobei Handeln hier im weitesten Sinne zu verstehen ist, nämlich als Tun oder Lassen, Sprechen oder Schweigen. In diesem Stufenmodell ist das „Ich“ eine Mittelschicht zwischen der breitesten und einflussreichen Schicht „Es“ und der obersten Schicht „Über-Ich“. Und das bedeutet, wenn es darum geht, absichtlich und vernünftig zu handeln, d. h. Handlungsmöglichkeiten logisch, rational, selbstkritisch und nach bisherigen Erfahrungen abzuwägen, dann ist das „Ich“ am Werk.

Das Verhalten ist nach Freud durch den unbewussten Konflikt zwischen den impulsiven Trieben des Unbewussten („Es“) und den strengen Moralvorstellungen der höchsten Instanz („Über-Ich“) motiviert. Das Schichtenmodell von Freud sieht - bildlich gesprochen - wie ein Bauwerk mit drei Stocken aus, wobei der erste und größte Stock („Es“) einen dunklen („unkontrollierten“) Keller darstellt und das ganze Gebäude trägt, der zweite Stock („Ich“) steht für die rationale Verwaltung und Sachbearbeitung und in dem höchsten Stock („Über-Ich“) sitzt die moralische Autorität, die alles überwachen und orientieren versucht.    

Freud ist gleichermaßen vergöttert und scharf kritisiert. Er wurde von vielen als großer Pionier und Mitbegründer der Psychoanalyse und auf der gleichen Linie gesetzt wie etwa Kopernikus in der Astronomie oder Darwin in der Biologie, denn die drei haben den Menschen aus seiner „Heimat“ vertrieben: der erste hat ihm den Boden unter Füße „entzogen“ und „entblößt“ ihn als nichts mehr als einen kleinen mitrasenden „Punkt“ auf einem kleinen Planeten namens Erde am Rande einer Riesengalaxie unter vielen. Der zweite nahm ihm seine stolze vermeinte göttliche Herkunft und warf ihn zurück zur Mutternatur als nicht mehr als einen „Nachwuchs“ eines nicht besonders „schönen“ Tiers, nämlich des Schimpansen. Und als das nicht genug war, kam Freund hinzu und raubte dem Menschen den letzten Versteck, nämlich sich selbst, indem er zeigte, das der Mensch nicht mal Herr „Zuhause“, also in sich selbst, sondern eher selber durch ein dunkles unbewusstes „Steuergerät“, das sog. „Es“ bzw. das Unbewusste zum höchsten Teil beherrscht ist.

Zugleich wird Freund von vielen kritisiert. Sein Freund Carl Gustav Jung z. B. hält seine Denkweise für unflexibel und meint, wenn Freud einen Gedanken mal formuliert hat, will er den nicht mehr infrage stellen und Jung sieht dies darin begründet, dass sein Freund nicht in Philosophie ausgebildet ist, wobei er selbst an Kants Denken geschult ist und kann immer wieder alles im Zweifel zeihen (1).
Gille Deleuze kritisiert bei Freud die Tatsache, dass der letzte und alle Psychoanalytiker auch das „Unbewusste“ stets für ein Theater halten, wo die gleichen Stücke ewig gespielt werden (z. B. über Ödipus-Komplex), hingegen hält Deleuze das „Unbewusste“ eher für eine Art „Fabrik“, wo ständig Neues produziert wird. Deleuze und Félix Guattari sind allgemein gegen die Konzeption der Freud’schen Psychoanalyse und bieten stattdessen ein neues Konzept des „Unbewussten“, basiert auf drei Eckpfeilern: Den Mannigfaltigkeiten des Unbewussten, dem Delirium als Welt- und nicht als Familiendelirium (nach ihm deliriert man nicht z. B. über Vater, Mutter, Kindheit oder Privatangelegenheiten allgemein, sondern über etwas Universelles, Kosmisches, beispielsweise über das Ende der Welt, über seinen Stamm, über Traditionen, usw.) und letztens der Betrachtung des „Unbewussten“ als Maschine oder Produktionsfabrik und nicht als „Theater“. Dieses Thema wird hier nicht näher eingegangen (2). Ein Dritter (Michel Onfray) wirft (sehr polemisch) Freud Manipulation, Fälschungen von wissenschaftlichen Arbeiten sowie Fabulieren von Heilungsgeschichten vor und dass er darüber hinaus nur reiche Patienten analysieren wollte, weil er von denen unverhältnismäßig viel Geld verlangen konnte (3).

 
Literatur
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(1): Sigmund Freud - Die Erfindung der Psychoanalyse (TV Arte, Doku. 1997)
(2): Anti-Ödipus, Gille Deleuze, Félix Guattari. Auch Abécédaires Deleuze (DVD)
(3): Le crépuscule d’une idole. Michel Onfray

„Exzentrische Positionalität“ nach Plessner


„Der Mensch ist dem Menschen problematisch geworden!“ (1)

Die philosophische Anthropologie kann als die intellektuelle Bemühung der Menschen insbesondere seit dem Anfang des 20.Jahrhunderts, diese Problematik zu beleuchten. Plessner ist einer der Vertreter dieser philosophischen Richtung, der das Menschsein dadurch gekennzeichnet, dass der Mensch weltoffen ist in Abgrenzung zur Tierwelt, die an ihre unmittelbare Umwelt instinktgebunden bleibt.

Plessner definiert den Begriff „Exzentrität“ des Menschen, um die Reflexivität bei dem letzten als besondere Eigenschaft hervorzuheben, die dem Menschen ermöglicht, seinen eigenen Standpunkt im Leben zu transzendieren und zu thematisieren. Weiterhin entwirft Plessner den Begriff „Positionalität“, um die Tatsache zum Ausdruck zu bringen, dass der Mensch zugleich wie alle Lebewesen auch durch seinen Standpunkt in der unmittelbaren Umwelt gefangen ist. Somit ist der Mensch einer „exzentrischen Positionalität“ unterliegen, die nach Plessner den Doppelcharakter des Menschseins kennzeichnet: Einerseits ist der Mensch Reflexionsfähig, so dass er in der Lage ist, seine lebendige Wirklichkeit mit Denken und Vorstellung zu überstreiten und anderseits dieser Wirklichkeit aufgrund seiner Biologie gebunden bleibt wie jedes andere Lebewesen auch. Wenn Schlegel davon ausgeht, das Menschsein durch zweierlei verschiedene Prinzipien zu bestimmen ist, nämlich Biologie und Geistigkeit, will Gehlen von dem metaphysischen Prinzip „Geistigkeit“ absehen, indem er erstens den Menschen wegen seiner Instinktunsicherheit als „Mängelwesen“ charakterisiert und dann zweitens den ganzen auf Geist basierenden Kulturbetrieb als Kompensationsversuch dieses biologischen Mangels interpretiert. Gehlen stimmt hier mit Schoppenhauer überein und könnte mit ihm sagen: „Wie die Hand zum Greifen da ist, ist der Geist zum Begreifen da.“ Somit leitet Gehlen die intrinsische Geistigkeit beim Menschen aus seiner Biologie ab, eben aus der mangelhaften Biologie im Vergleich zum Tier.

Wie Schlegel und Gehlen, unterstreicht Plessner seinerseits auch mit allem Druck den offenen Charakter des Menschseins und sagt: „Die eigentümliche Verbundenheit mit der praktischen Situation schließlich verbietet der Philosophischen Anthropologie, den Menschen, wenn auch in der Fülle ‚aller‘ seiner Seinsdimensionen, auf das hin, was er eigentlich sein kann und soll, zu formulieren oder zu definieren. Strukturformeln dürfen keinen abschließend-theoretischen, sondern nur einen aufschließend-exponierenden Wert beanspruchen.“ (2)

Bezogen auf seine kennzeichnende Reflexivität, ist der Mensch nach Plessner „exzentrisch“. Jedoch lässt sich diese „Exzentrität“ nur verstehen, wenn die „Positionalität“ des Menschen in Betracht gezogen ist. In seiner Umwelt biologisch gebunden, aber durch seine Geistigkeit beflügelt, bemüht sich der Mensch ständig diesem „Schicksal“ des eigenen Standpunktes zu entkommen und sich zu transzendieren. Der Doppelbegriff „exzentrische Positionalität“ hilft den Zerrissenheitsaspekt des Menscheins zu beschreiben und führt zugleich zur Kenntnisnahme einer noch radikaler Problematik der philosophischen Anthropologie. Die menschliche Besonderheit "Reflexivität" führt zur "Exzentrität", was nicht anders heißt als die "abenteuerliche" Weltoffenheit, also die Nicht-Definierbarkeit apriori eines Lebenszwecks weder unter individueller Hinsicht noch für die Menschheit als Gattung. Als die Menschen noch vom Kosmos (altgr.: (Welt-)Ordnung) sprachen, sahen Philosophen in dem Menschen einen Mikrokosmos an, und somit dachten, seine Stellung und Wesen abzuleiten. Eberhard Simons sagt: "[...] Früher in der Antike war die Welt Kosmos, im Mittelalter wurde sie zum Universum, in der Neuzeit wurde sie zum Weltraum und jetzt ist das Weltall, das beinah ein 'Weltnichts' ist. Und im Weltall kann man nicht leben; da hat man kein Dach über den Kopf; das ist aussetzend; da wird die Welt nicht mehr zu Heimat; da gibt es keinen Himmel mehr und keine Erde; da gibt es keine Zeit, die den Menschen führt [...]."  (3)

Plessner bringt diese radikale Problematik auf den Punkt: "Wo keine Gewissheit eines Makrokosmos mehr besteht, hat der Gedanke des Mikrokosmos keinen Boden und keine Wahrheit mehr. [...]

Wenn ihre alten metaphysischen und ontologischen Garantien nicht mehr fraglos gelten, dann werden auch Menschheit und Menschlichkeit moralisch zum Problem." (4)  


Literatur
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(1): Abū Hayyān al-Tawhīdī (Philosoph und Literat; 930-1023; Bagdad/Irak)

Quelle: Humanisme et Islam: Combats et propositions. Mohammed Arkoun.

(Arabische Übersetzung: 1.Auflage, 1997, London).

(2): Plessner, Die Aufgabe der philosophischen Anthropologie, S. 137f.

(3): Prof. Eberhard Simons (* 9. Juli 1937 in Chemnitz; † 8. April 2005 in München)

(Video: BR TV ALPHA Sendungen)

(4): Plessner, Die Aufgabe der philosophischen Anthropologie, S. 136-141