26.10.2012

(10) Wie versteht Aristoteles Herstellen und Handeln?



Neben seiner theoretischen Philosophie (Metaphysik) ist Aristoteles für seine praktische Philosophie bekannt, auch wenn diese mit einem relativ niedrigeren Begründungsanspruch auftritt als die prima philosophia (Erste Philosophie). Eine Theorie für die Praxis betrifft das menschliche Handeln und dies kann nicht gleichermaßen erkenntnissicher erfasst wie die allgemeinen Grundstrukturen der Wirklichkeit.   
Handeln ist Situationsabhängig und erfordert nach Aristoteles praktische Kompetenz (Klugheit), ein praktisches Wissen um die Ziele und das richtige Mittel, sie zu konkretisieren. Die Zielorientiertheit des menschlichen Handelns ist für ihn auf Ethik basiert, das heißt es geht ihm um das rechte Handeln und die bestmöglichen Ziele. Aristoteles diskutiert trotzdem nicht in erster Linie etwa ethische Normen, sondern begründet eine allgemeine Handlungstheorie, wobei er das menschliche Handeln in Gegenüberstellung anderer Lebewesen analysiert und beschreibt. Hierbei stellt er die Besonderheit des menschlichen Tätigseins als Voraussetzung seiner ethischen Theorie heraus. Aristoteles geht von der Teleologie (Zielgerichtetheit) aller Tätigkeiten aus und stellt dem ethischen Handeln das Herstellen als grundlegende andere Weise des Tätigseins gegenüber. „Etwas Gutes tun wollen“ ist das Ziel und Motivation unserer Tätigkeiten nach Aristoteles, wobei das Gute hier vorerst nicht ethisch zu verstehen ist, sondern als etwas, was für einen überhaupt erstrebenswert ist, was ihm interessiert oder ihm von Wichtigkeit bzw. Lebensrelevanz ist etwa ein Stück Brot, wenn er gerade hungrig ist. Wie er aber über dieses Brot verfügt, also der Weg oder das Mittel hierzu ist erstmal Nebensache. Sein Tun ist dadurch getrieben, etwas für ihn Gutes zu erreichen, also das Gut (im Sinne eines Objekts) zu besitzen.

(9) Wahrheitstheorien von Peirce und James, ein Vergleich



Ch. S. Peirce gilt als Vater des Pragmatismus und sein ‚Schüler’ und Bewunderer W. James hat diese Philosophierichtung zu ihrem bekannten Weltrang gebracht, den sie bis heute besitzt. Bevor wir einen Vergleich beginnen, wie die beiden Philosophen diese Theorie verstanden haben und worin liegen die Unterschiede der Sichtweisen, möchte ich eine getrennte Kurzbeschreibung jeweiliger Sichtweise versuchen.

Als strenger Logiker beschränkt Peirce seine Theorie auf die wissenschaftliche Wahrheit, die wiederum nach ihm nur als Konsens innerhalb der Wissenschaftsgemeinschaft herausgearbeitet werden kann (Konsenstheorie). 
Schwerpunkt für Peirce ist die Bedeutungsbestimmung der Begriffe, eine Aufgabe, bei deren Lösung man sich stets auf die Lebensführung beziehen soll, indem man die praktische Relevanz der Bedeutungen, d. h. die dem betrachteten Gegenstand zukommenden Wirkungen genau unter Lupe nimmt. Es ist dennoch offensichtlich, dass dieser Praxisbezug nur Einzelfälle betreffen kann, wobei einem Begriff auch nach Peirce allgemein gültige Bedeutung zugeordnet werden soll. Hierzu betont er die Vorstellung der denkbaren Möglichkeiten und Gedankenexperimente, um diese Lücke ansatzweise zu schließen. „Ansatzweise“, weil diese Begriffsbestimmung jedenfalls ideal bleibt und daher schwer erreichbar, aber nichtsdestotrotz muss sich jede Wahrheitssuche an dieser Bestimmung orientieren als ethischem Handlungsideal. Dieses Wahrheitsverständnis kann nur offen, also prozesshaft sein, denn hier geht es darum, sich der Wahrheit schrittweise 'in the long run' anzunähren. Dieser Prozess ist dadurch gekennzeichnet, dass allein die Forschungsgesellschaft daran arbeitet, bis sie zu einem Konsens kommt, der seinerseits immer wieder revidiert, ausgearbeitet und vervollständigt gemäß jedem neuen Kenntnisstand. Somit macht Peirce aus der Wahrheit einen ausschließlichen Wissenschaftsanspruch und gleichsam ein ewiges offenes Projekt. Ein Konsens, der stets prinzipiell bezweifelbar bleibt, drückt den Vorläufigkeitscharakter jeder Wahrheit aus und macht aus ihr ein bloß Fürwahrhalten, ein derzeit gültiges Überzeugtsein, das früh oder später mit neuen Erkenntnissen überholt wird und Platz für einen „in the long run“ von den Forschern ausgearbeiteten neuen Konsens räumt.
Des Weiteren sieht Peirce im Wissenschaftsfortschritt eine Art Evolution, ein notwendiges schicksalhaftes Tun der Realität, die von der Wissenschaftsgemeinschaft getragen ist. Eine individuelle Handlung kann somit kein Wahrheitsbezug sein, also ein unmittelbarer Nutzen für ein Individuum verleiht keinem Begriff seine Bedeutung, die sich nur „in the long run“ durch alle Forschungshandlungen als wahr oder falsch erweisen muss. 

James erweitert sein Verständnis des Wahrheitsbegriffs ausgehend von der Korrespondenztheorie, die eine Überstimmung zwischen Theorie und Wirklichkeit postuliert, indem er diese Übereinstimmung als ständigen Prozess interpretiert, währenddessen die Wahrheit nach und nach zu Tage tritt. Diese dynamische Sichtweise weigert sich die Wahrheit als einen statischen Tatbestand anzuerkennen, den man durch einen Abgleich zwischen einer Ausgangstheorie und einem darauf basierten Experimentergebnis zur Geltung verhilft. Denn diese Konzeption mag für die exakten Wissenschaften richtig sein, aber fürs Leben eines jeden von uns bleibt sie unzulänglich. Damit seine Auffassung der Wahrheit für alle Aspekte des Lebens Rechnung trägt, sieht James den Wahrheitsbegriff eher als einen "Prozess der Bewährung", also eine Wahrheit, die immer unterwegs zu sich selbst, genauso wie das Leben auch. Ich mache mich Vorstellungen, wie mein Leben sein wird, ich schmiede Pläne, fälle Urteile und unternehme Taten, die alles im Gang setzen und sozusagen mein Leben zum Entfalten bringen; ich korrigiere mich unterwegs dahin, ändere meine Ideen, passe sie stets den neuen Gegebenheiten und Notwendigkeiten an und lasse sie sich nach und nach bewahrheiten, wahr werden, also meine Wahrheit werden, worüber ich mich mithilfe eigener Erlebnisse und Ergebnisse vergewissere. Die Wahrheit bei James hier ist keine statische Relation der Entsprechung zwischen Gedanken und Tatsachen, sie ist vielmehr ein Vorgang der Bewerkstelligung selbst der Wahrheit, mit einem Wort, ein Ereignis.
Wichtig bei James ist auch seine Differenzierung von Lebensbereichen, wenn er von primären Wahrheitsstufen für die alltägliche Lebenspraxis bis hin zu den höchsten Stufen der wissenschaftlichen Wahrheiten spricht, wobei - der Wahrheitsstufe ungeachtet - stets die Angemessenheit der Theorie an die Lebensbedürfnisse für ihn als Charakteristikum bleibt. Darüber hinaus erhält die soziale Komponente bei James' Theorie auch Beachtung, denn für uns sind Fremderfahrungen besonders wichtig, worauf wir uns verlassen können und müssen, da keiner alles im Leben allein ausprobieren und über alles in Details Bescheid wissen kann. 

Jetzt kommen wir zu einer Gegenüberstellung der jeweiligen pragmatischen Sichtweisen von Peirce und James.
Der wissenschaftliche Hintergrund der beiden Philosophen lässt ahnen, dass sie erkenntnistheoretisch nicht mit der gleichen ‚Wellenlänge schwingen’. Zwar halten die beiden den Pragmatismus für eine Methode fürs Philosophieren, um alle Probleme zu behandeln, aber eben im Philosophieren scheiden sich die Geister. Als Wissenschaftstheoretiker bzw. Logiker konzentriert sich Peirce auf die wissenschaftliche Erkenntnis als die einzige Verkörperung des Wahrheitsbegriffs und hebt für die Forschungsgemeinschaft den exklusiven Anspruch auf die Wahrheit. Die feste Verbindung zwischen rationaler Erkenntnis und rationalem Zweck gilt für ihn als das Kriterium für die Wahrheitssuche schlechthin. Er sagt: „dass ein Begriff, d. h. der rationale Bedeutungsgehalt eines Wortes oder eines anderen Ausdrucks, ausschließlich in seinem denkbaren Bezug auf die Lebensführung besteht.“ [1] 
Weiterhin bemüht sich Peirce um eine genaue Vorgehensweise, wie wir unsere Begriffe definieren, nämlich indem wir uns stets fragen, zu welchen konkreten Wirkungen führen uns solche Definitionen, also ihre praktische Relevanz für den untersuchten Gegenstand nicht aus dem Blickfeld rücken lassen.
James aber als Psychologe benötigt zuerst für seinen Bereich einen Ansatz, wie er die menschlichen Handlungen klären kann. Er geht hierzu aus einer evolutionären Entwicklung des Bewusstseins und folgert aus dem langen Überlebenskampf, dass der Geist selbst (neben Körper) sich auch bewähren muss, indem er sich stets an Zweckmäßigkeit orientiert. Und so sieht James das Nützlichkeitsprinzip als ausschlaggebenden Maßstab, wenn es darum geht, Taten und Handlungen von Menschen zu beurteilen und zu begründen. Daher ist der Pragmatismus für James eine Erkenntnis- wie auch eine Handlungstheorie. Als strenger Logiker will Peirce, dass der Wissenschaftsbetrieb auf soliden, unwidersprüchlichen Säulen basiert, daher stellt eine möglichst präzise Begriffsbestimmung für ihn ein absolut wichtiges Thema dar. Denn die Wissenschaftler müssen eindeutige Sprache sprechen, damit sie auch der Wahrheit immer näher kommen können und das kann nur der Fall sein, wenn alle Begrifflichkeiten pragmatisch, also sachbezogen bestimmt sind. Hierzu schreibt er „In der Methodologie ist der Weg, den Konsequenzen, die den Begriffen zugehören, nachzugehen und sie zu vergleichen, sicherlich ein ausgezeichnetes Verfahren, um die differenten Bedeutungen differenter Begriffe festzustellen.“ [2].
James hingegen will seinen pragmatischen Ansatz für das ganze menschliche Leben erweitern und so hält er alles für wahr, z. B. Meinungen, Hypothesen und persönliche Erlebnisse, solange sie einen konkreten Nutzen aufweisen. Alles Geistige, etwa Gedanken, Vorstellungen usw. sind Produkte des in der Evolution entwickelten Bewusstseins, das wiederum als Instrument der allgemeinen Ökonomie der Zwecke und Widerstände ununterbrochen natürlichen, überlebenswichtigen Herausforderungen ausgesetzt ist, für die es pragmatische, also nützliche Antworten finden muss. Von daher alles, was aus diesem Bewusstsein (oder Subjekt) herauskommt kann eine Wahrheit verkörpern, solange es einen Nutzen verfolgt. Es gibt nach James sozusagen keine ‚brotlose Kunst’, denn alle mentalen Bemühungen, wie Theorien, Regeln usw. erfüllen für den Menschen Funktionen und daher sind sie nützlich, also wahr. Aus seinem evolutionären erkenntnistheoretischen Ansatz öffnet James die pragmatische Philosophie auf alle Bereiche des menschlichen Lebens, die sich von den individuellsten Erfahrungen bis zur allgemein gesellschaftlichen Angelegenheiten verteilen. Und genau hier liegt der Grund, warum gerade der Name William James mit Pragmatismus weit und breit verbunden ist als mit dem Begründer dieser Philosophie Charles Sander Peirce, obwohl dieser mehr Einfluss auf anderen Wissenschaften wie Semiotik hat. Übrigens versteht Peirce die Zeichenlehre auch in einem pragmatischen Sinne und trägt damit enorm zu ihrer Entwicklung bei, so dass sie nicht nur eine Linguistiktheorie bleibt, sondern ein wichtiger Bestandteil der Erkenntnistheorie geworden ist. Auf dieses Thema wird hier nicht näher eingegangen.

[1]: Ch. S. Peirce, Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus, S. 428f.
[2]: Ch. S. Peirce, Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus, S. 315.

(8) Was meint James mit seiner Rede vom „Wahrheitskredit“? Welchen Aspekt seiner Wahrheitstheorie will er damit erläutern? Beurteilung dieser Vorstellung



Der Pragmatismus spricht dem Wahrheitsbegriff eine Schlüsselrolle zu. Wenn die Wahrheit für Peirce nur als Konsens im Rahmen der Wissenschaftsgemeinschaft gefunden werden kann, gilt für James, diesen Wahrheitsbegriff über die Wissenschaft hinaus zu erweitern, damit jedes Erlebnis eines jeden Menschen auch als Wahrheit gelten kann. James leitet aus dem Bedingungsverhältnis von Wahrheit und Nützlichkeit als dem Grundkriterium des pragmatischen Philosophierens ab, dass keine Wahrheit, auch nicht eine persönliche vorweg zensiert sein darf. Wenn einzig und allein die Nützlichkeit das Maßstab für Sinn oder Unsinn, also für Wahrheit eines Unternehmens gilt, dann reicht beispielsweise ein gelungenes Leben als Beweis aus, dass die Vorstellungen dahinter wahrhaft waren. James leiht von der Ökonomie Begrifflichkeiten aus, um seine Philosophie zu verdeutlichen und spricht z. B. vom Wahrheitskredit. Damit weist er auf die Vorinvestition eines Menschen in Form von Vorstellungen, Pläne, die seinem Leben zuvorkommen, bevor er konkret anhand Erfolg oder Misserfolg feststellen kann, ob seine Lebensvorstellungen wahr waren oder nicht. Das Wahrheitskredit entspricht in diesem Vergleich einem Geldskredit, das im Finanzmarkt zuerst nur auf Hinsicht auf Erfolg investiert wird und erst später wird es sich zeigen, ob der Investor mit seiner Hinsicht oder Vorstellung Recht hatte bzw. in Wahrheit war.
Noch abstrakter formuliert, auf der Zeitschiene werden zuerst Urteile und Vorstellungen stattfinden (wie ein Kredit auf Zeit), aber ihre Wirkungen im konkreten Leben werden dann erst später auftreten (wie eine Rendite), die wiederum zeugen, ob wir anfangs mit unseren Absichten in der Wahrheit waren oder nicht.
Aber so starr und simpel sieht James das Verhältnis zwischen Gedanken und Tatsachen wiederum nicht, denn Wahrheit für ihn ist eher ein dynamischer Prozess, bei dem wir immer wieder die Übereinstimmung zwischen unseren Ideen und Wirklichkeit überprüfen. Daher benutzt James die ökonomischen Metaphern wie „Kredit“, um erstens das dynamische Zusammenspiel zwischen theoretischen Bemühungen und deren tatsächlichen Folgen zu visualisieren und zweitens den Nutzen als alleinigen „Wahrheitssprecher“ hervorzuheben.
Über die Wahrheit entscheidet die praktische Angemessenheit der Vorstellungen an die Lebensbedürfnisse. James versteht die Verifikation nicht nur im Sinne der Korrespondenztheorie, sondern erweitert diesen Sinn und hält sie für den dynamischen Prozess der Wahrheitsproduktion selbst. Jeder für sich kann nicht alles verifizieren, obwohl die prinzipielle Möglichkeit hierzu gegeben ist, aber er muss es auch gar nicht, denn nach James ist jede Wahrheit nur ein für Wahrhalten ist, das auch indirekt verifizierbar ist. Solange wir keinen triftigen Grund haben, brauchen wir das, was für wahr gilt und auf Erfahrungen anderer Mitmenschen beruht nicht in Zweifel zu ziehen. Diese indirekte Verifikation bringt einen weiteren Aspekt des Begriffs „Wahrheitskredit“ zum Ausdruck. Diesbezüglich sagt James: „Wir lassen indirekte Verifikation ebenso gelten wie direkte. […] Die Wahrheit lebt tatsächlich größtenteils vom Kredit. Unsere Gedanken und Überzeugungen ‚gelten’, solange ihnen nichts widerspricht, so wie die Banknoten so lange gelten, wie niemand ihre Annahme verweigert. Dies alles weist aber auf augenscheinliche Verifikation hin, die irgendwo vorhanden sind. Ohne diese muss unsere Wahrheitsfabrik ebenso zusammenbrechen wie ein finanzielles Unternehmen, dass keine Kapitalgrundlage hat. Sie nehmen von mir eine Verifikation an und ich eine andere von Ihnen. Wir verkehren untereinander mit Wahrheiten. Aber die Grundpfeiler des ganzen Oberbaues sind doch immer Überlegungen, die von irgendjemanden anschaulich verifiziert worden sind.“ [1]   

Kommentar zu dieser Wahrheitstheorie von James:

James interpretiert den Wahrheitsbegriff (im Sinne der Korrespondenztheorie) als Übereinstimmung zwischen Denken und Sein, die er weiterhin als einen „Vorgang-des-Geführt-Seins“ ansieht: „Übereinstimmung stellt sich demnach in ihrem Wesen als ein Akt des Führens heraus. Dieses Führen ist ein nützliches Führen, denn wir gelangen dorthin, wo Dinge sind, die für uns von Wichtigkeit sind. Wahre Ideen führen uns sowohl zu nützlichen Worten und Begriffen als auch unmittelbar zu sinnenfälligen Dingen.“ [2]
In der Jamesschen Theorie ist die Wahrheit nichts statisches, sie ist kein Befund, kein Zustand der Dinge, die einmal gefunden wird für ewig erhalten bleibt. Sie ist hingegen ein Prozess der Bewahrheitung einer Beziehung zwischen Gedanken und Tatsachen; eine Beziehung, die von einem Subjekt im Vorfeld als Hypothese entworfen und anschließend an der Realität überprüft wird, wobei diese Verifikation keine eindimensionale oder lineare ist, sodass man sagen könnte: Da sind die Gedanken und hier sind die daraus entstandenen Realitäten, und stimmen die beiden überein, dann tritt damit die Wahrheit zu Tage. Sondern handelt es sich hier um eine mehrdimensionale Relation zwischen Subjekt und Objekt bzw. zwischen Denken und Sein. Und die Mehrdimensionalität liegt in der Dynamik des Lebens selbst begründet. Wenn James davon spricht, dass die Wahrheit tatsächlich größtenteils vom Kredit lebt, dann meint er, dass eine Verifikation nur eine komplexe sein kann, nämlich eine direkte und vor allem auch eine indirekte ist, indem wir auf Erfahrungen anderer Menschen angewiesen sind, um etwas „für wahr zu halten“, also um überhaupt von Wahrheit oder genauer Fürwahrhalten sprechen zu können. Unser Vertrauen in fremden Erfahrungen findet einen ‚Trost’ (um nicht von einem Grund zu sprechen) in dem Glauben, dass wir im Prinzip selbst in der Lage sind, Überprüfungen jeder Zeit durchzuführen. Diese grundsätzliche Möglichkeit ist zwar offensichtlich, aber in der Realität kaum umsetzbar und trotzdem baut sich darauf - meiner Ansicht nach - die ganze Utopie einer Zusammenhaltenden, funktionierenden menschlichen Gesellschaft. Keiner realisiert wirklich, wie stark er von seinen Mitmenschen abhängig ist. Wir trinken Wasser im Vollvertrauen, dass es sauber und gesund ist und trotzdem haben wir es nie selber überprüft. Ähnliches gilt für unsere Lebensmittel, Medizin, Autos, Häuser, Kleidung, also eben für alle unsere Lebensbedürfnisse. Sogar in dem Lebensbereich, wo wir kompetent sind, führen wir für die Gesellschaft nur einen Teil der Überprüfungen aus, den Rest übernehmen andere. Die Komplexität des Lebens, insbesondere heute führt dazu, dass das Auf-einander-angewiesen-sein (1) jede Lebensecke beherrscht, auch in unserem Spezialbereich, wo wir stolz sind, mitmachen zu dürfen, sind wir direkt oder indirekt von anderen und auch von deren unzähligen von uns selbst nie geprüften Erzeugnissen und Arbeitsmitteln abhängig.
Dieses Auf-einander-angewiesen-sein (genommen im Sinne von James) drückt die Tatsache aus, dass die Wahrheit nicht nur eine Angelegenheit eines Individuums ist, sondern eher eine für die Gesellschaft, wobei die letzte im allgemeinen Sinne verstanden wird im Gegenteil zu Peirce, der sie auf die wissenschaftliche Gemeinschaft beschränkt. Wenn Peirce sich in erster Line für das Forschungslabor interessiert, sieht James im ganzen Leben sozusagen ein riesiges Labor, wo sich ständig Wahrheiten (oder das, was für solches gehalten ist) auf Prüfstand sind, so dass alte Annahmen vernichtet und neue angenommen werden und das einzige, was in diesem ewigen wiederholten Unterfangen zählt ist das, was für die Menschen vom Nutzen ist. Und wenn wir von Nützlichkeit als Bewertungskriterium der menschlichen Tätigkeiten sprechen, heißt das für mich, dass jede Schädlichkeit ausgeschlossen bleiben muss, was im Umkehrschluss bedeutet, jedes Tun zu unterlassen, das dem Menschen, also auch seiner Umwelt Schaden einrichten kann. Ich denke nicht, dass James den Begriff „Nutzen“ im Sinne des bekannten Spruchs „der Zweck heiligt die Mittel“ versteht. Spricht man diesem Begriff die Schlüsselrolle, um etwas für wahr gelten zu lassen, dann heißt das logischerweise, seinem Gegenteil, nämlich „Schaden“ einen Platzverweis zu erteilen. Kurzum, der Nutzen im absoluten Sinne schließt sein Gegenteil aus, denn sonst wird ein Nutzen gar keine im engsten Sinne. Es versteht sich, dass ein absoluter oder reiner Nutzen nicht realistisch ist, genauso wie es keine gänzlich schadenfreie Tätigkeit gibt. Es handelt sich hier vielmehr darum, die Grenzen zu malen innerhalb deren, der Mensch ansatzweise sein Tun und Lassen veranlasst und während er zwar stets seinen Nutzen vor Auge hat, bleibt er aber wohl bewusst, dass es wirklich um einen solchen geht und dass kein Schaden um die nächste Ecke lauert.
Worauf weist uns das Wort „Kredit“ auf?
Ein junges Paar finanziert eine Wohnung durch einen Bankkredit. Also die zwei jungen Menschen genießen zwar „ihre“ Wohnung, die ihnen im Grunde genommen aber gar nicht gehört und die sie selbst auch nicht gebaut haben. Also ein Kredit dient dazu, etwas anzunehmen, zu haben, zu „genießen“ …usw., ohne es eigentlich vorerst wirklich zu besitzen. Bezahlt das Paar den Kredit ab, erst dann kann man von der Wahrheit sprechen, dass die beiden in der Tat die Wohnung besitzen. Der Umgang mit Wahrheiten ist diesem Beispiel ähnlich, denn wir tauschen sie, nehmen sie nur an, denn für ihre Prüfung verlassen wir uns auf die anderen und begnügen wir uns mit der Grundüberzeugung, dass wir auch in der Lage sind eine Überprüfung durchzuführen, solange andere das auch konnten. Übernimmt jemand etwa bei einer eigenen Lebensgelegenheit jede Untersuchung und Prüfung in die Hand und kommt zu einem sicheren Ergebnis (also Wahrheit der betrachteten Gelegenheit), dann besitzt er auch diese Wahrheit tatsächlich, wobei andere, die evtl. sein Ergebnis annehmen wiederum vom „Wahrheitskredit“ leben.

[1] : GPTD VIII, S. 434.
[2] : GPTD VIII, S. 440.
(1): Dieses Wort hat meines Wissens James nicht benutzt, ich habe es selbst „geschmiedet“

GPTD VIII: Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung, Band 8
20. Jahrhundert
Reclam
 

(7) Ch. S. Peirces pragmatische Maxime


Das wesentliche Kriterium des praktischen Denkens ist der Ansatz, die konkrete Nützlichkeit für die Lebenspraxis stets als ausschlaggebend anzusehen, wenn es darum geht, Theorien, also Begriffe auf Wahrheit oder Falschheit zu überprüfen.
Die Ausgangsfrage für den Begründer des Pragmatismus Peirce, um die sich alles dreht ist diese:
Woraus besteht die Bedeutung eines Begriffs und wie können wir sie bestimmen?
Hierzu sagt er, “... dass ein Begriff, d. h. der rationale Bedeutungsgehalt eines Wortes oder eines anderen Ausdrucks, ausschließlich in seinem denkbaren Bezug auf die Lebensführung besteht.“ [1]
Seine pragmatische Maxime besteht in der Beantwortung seiner Anfangsfrage, also darin, eine genaue Methode für die Analyse der Bedeutung von Begriffen anzugeben deren wesentliches Merkmal bzw. Kerngedanke ist, „dass sie eine untrennbare Verbindung zwischen rationaler Erkenntnis und rationalem Zweck anerkannte“. [2]
Aus diesen Ausschnitten von Peirce geht hervor, dass die Bedeutung eines Begriffs nicht nur das, was er bezeichnet, d. h. den Inhalt, den Gegenstand des Begriffs, sondern auch das, was er bewirkt.  Peirce betont die pragmatische Relevanz der Bedeutungen und daher die praktischen Folgen, die dem bezeichneten Gegenstand zukommen können. Hier spricht zuerst der Laborexperimentator, der von Bedeutungsspekulationen nicht hält, sondern den Gehalt seine Begriffe als erfahrbare Wirkungen und zwar mithilfe von Experimenten (bzw. konkreten Lebenssituationen) offensichtlich machen will.
„Zuerst“ weil Peirce nicht hier stehen bleibt und logischerweise auch nicht stehen bleiben kann, denn es wäre willkürlich sich auf einzelne Experimente zu verlassen, um einen Begriff gänzlich zu bestimmen. Einen Bezug auf Lebenspraxis zu demonstrieren weist erst darauf hin, dass dieser Begriff überhaupt wahr bzw. für uns von Bedeutung sein kann. Aber Peirce muss weiterhin alle möglichen Handlungsbezüge in Betracht beziehen und mit allen vorstellbaren Gedankenexperimenten spielen, damit ein Begriff seinem rationalen Gehalt in vollem und ganzem entspricht, indem seine volle Bedeutung ihren Ausdruck bzw. ihre Entfaltung in seinen praktischen Wirkungen findet und somit als allgemeiner Begriff zur Geltung gelangt.

[1], [2] : Charles Sander Peirce, Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus, S. 428f.