03.10.2012

(3) Zusammenhang von Erlebnis, Ausdruck und Verstehen bei Dilthey

Bei Dilthey hat die Hermeneutik insbesondere die Aufgabe den Menschen zur Selbstbesinnung zu verhelfen. Uns als einzelne Menschen und im Kontext der Kultur zu verstehen ist daher die Grundfrage. Da wir uns selbst nicht als äußerlichen Gegenstand isolieren und erforschen können wie die Naturwissenschaft mit deren Objekten vorgeht, bleibt uns nicht übrig als ganzheitlich anzusetzten und den Menschen im Verhältnis zu sich selbst, zu den anderen und zu seinem kulturellen Kontext zu beachten. Diese Ganzheitlichkeit muss stets das Denken genauso wie die Gefühle und das Wollen eines Menschen zugleich im Augenfeld behalten. Diese drei Dimensionen können uns aber nur als Erlebnisse vorkommen, zu denen wir widerum keinen direkten Zugang haben. Daher die Notwendigkeit die Kulturwerke sowie alle Ausdrucksformen und Lebensäußerungen (Geistesobjektivationen) in Betracht zu ziehen, wenn es darum handelt uns zu verstehen. Dieses Verhältnis zwischen Erlebnis, Ausdruck und Verstehen stellt den Kern der Dilthey'schen Hermeneutik dar. Er hält eine Erkenntnistheorie des eigenen “Ich” oder des kulturellen “Wir” für notwendig. Da wir uns einer gemeinsamen Ausdruckswelt aus Worten, Bildern, Symbolen, Zeichen usw. bedienen, um über uns überhaupt sprechen zu können ist die prinzipielle Möglichkeit dann gegeben, dass andere uns und wir andere verstehen vermögen. So gesehen ist die Hermeneutik nach Dilthey nichts anders als Audrucksverstehen. Aber eben ist das Verständnis nur prinziell möglich und keinesfalls notwendig, denn die Mißvertändnisse zwischen Menschen bleiben möglich genauso wie der Mensch sogar sich selbst mißversehen kann.

Die Bedeutung der Biografie und vor allem der Autobiografie für das Verständnis einer Persönlichkeit ist ein gutes Beispiel wie Dilthey in seiner Hermeneutik einen Menschen, sein Leben und seine Werke als eine Ganzheit versteht. Gerade in diesem Punkt kommt der berühmte hermeneutische Zirkel erneut zum Tragen, denn ein Biograf muss immer schon sich oder den anderen, über den er schreibt versatanden haben. Denn manche Theoretiker und Kritiker der Autobiografie denken, dass so ein Unternehmen stets Randbdingungen unterligt ist. Die Sprache als System mit all seinen Gesetzen und Beschränkungen ist die erste Grenze, die dem Auto- und -Biograf vieles vorgibt und sogar diktiert. Ein Autobiograf kann über sich und sein Leben erst schreiben, wenn er zuerst einen Lauf und ein Bild über dieses Leben in seiner Vorstellung entwirft, was aber nicht unbedingt der Wirklichkeit gänzlich widerspiegelt. Hier kommen zahlreiche Einflußfaktoren ins Spiel, etwa das zeitversetzte Nachleben von Ereignissen, das unbewußte Verdrängen von manchen Details oder sogar das Unterstreichen und womöglich Übertreiben von anderen Erlebnissen sekundären Bedeutung, kurz einen Lebenslauf zu skizzieren, der eher im geheimen Wunsch sein sollte nicht aber wie er in der Tat war. Es geht in dieser Kritik nicht um eine Unterstellung, dass ein Biograf wohlwollend “verfälscht”, auch wenn das nicht ganz auszuschliessen ist, sondern darum, dass sich z.B. sprachliche, psychische und geitsentwicklungs- und  gedächtnisbedingte Beschränkungen kaum vermeiden lassen. Hier stellt sich die Frage: angesicht der Offenheit von Texten (siehe vorheriges Thema 2), ist es nicht berechtigt nachzufragen, dass das Leben eines Menschen und daher seine Biografie genauso für Interpretationen und Schöpfung neuer Bedeutungen offen bleibt. Soll nicht ein Bigraf das Leben eines anderen unter neuen Voraussetzungen besser versetehen als der Mensch selbst, über den er schreibt?

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