26.10.2012

(9) Wahrheitstheorien von Peirce und James, ein Vergleich



Ch. S. Peirce gilt als Vater des Pragmatismus und sein ‚Schüler’ und Bewunderer W. James hat diese Philosophierichtung zu ihrem bekannten Weltrang gebracht, den sie bis heute besitzt. Bevor wir einen Vergleich beginnen, wie die beiden Philosophen diese Theorie verstanden haben und worin liegen die Unterschiede der Sichtweisen, möchte ich eine getrennte Kurzbeschreibung jeweiliger Sichtweise versuchen.

Als strenger Logiker beschränkt Peirce seine Theorie auf die wissenschaftliche Wahrheit, die wiederum nach ihm nur als Konsens innerhalb der Wissenschaftsgemeinschaft herausgearbeitet werden kann (Konsenstheorie). 
Schwerpunkt für Peirce ist die Bedeutungsbestimmung der Begriffe, eine Aufgabe, bei deren Lösung man sich stets auf die Lebensführung beziehen soll, indem man die praktische Relevanz der Bedeutungen, d. h. die dem betrachteten Gegenstand zukommenden Wirkungen genau unter Lupe nimmt. Es ist dennoch offensichtlich, dass dieser Praxisbezug nur Einzelfälle betreffen kann, wobei einem Begriff auch nach Peirce allgemein gültige Bedeutung zugeordnet werden soll. Hierzu betont er die Vorstellung der denkbaren Möglichkeiten und Gedankenexperimente, um diese Lücke ansatzweise zu schließen. „Ansatzweise“, weil diese Begriffsbestimmung jedenfalls ideal bleibt und daher schwer erreichbar, aber nichtsdestotrotz muss sich jede Wahrheitssuche an dieser Bestimmung orientieren als ethischem Handlungsideal. Dieses Wahrheitsverständnis kann nur offen, also prozesshaft sein, denn hier geht es darum, sich der Wahrheit schrittweise 'in the long run' anzunähren. Dieser Prozess ist dadurch gekennzeichnet, dass allein die Forschungsgesellschaft daran arbeitet, bis sie zu einem Konsens kommt, der seinerseits immer wieder revidiert, ausgearbeitet und vervollständigt gemäß jedem neuen Kenntnisstand. Somit macht Peirce aus der Wahrheit einen ausschließlichen Wissenschaftsanspruch und gleichsam ein ewiges offenes Projekt. Ein Konsens, der stets prinzipiell bezweifelbar bleibt, drückt den Vorläufigkeitscharakter jeder Wahrheit aus und macht aus ihr ein bloß Fürwahrhalten, ein derzeit gültiges Überzeugtsein, das früh oder später mit neuen Erkenntnissen überholt wird und Platz für einen „in the long run“ von den Forschern ausgearbeiteten neuen Konsens räumt.
Des Weiteren sieht Peirce im Wissenschaftsfortschritt eine Art Evolution, ein notwendiges schicksalhaftes Tun der Realität, die von der Wissenschaftsgemeinschaft getragen ist. Eine individuelle Handlung kann somit kein Wahrheitsbezug sein, also ein unmittelbarer Nutzen für ein Individuum verleiht keinem Begriff seine Bedeutung, die sich nur „in the long run“ durch alle Forschungshandlungen als wahr oder falsch erweisen muss. 

James erweitert sein Verständnis des Wahrheitsbegriffs ausgehend von der Korrespondenztheorie, die eine Überstimmung zwischen Theorie und Wirklichkeit postuliert, indem er diese Übereinstimmung als ständigen Prozess interpretiert, währenddessen die Wahrheit nach und nach zu Tage tritt. Diese dynamische Sichtweise weigert sich die Wahrheit als einen statischen Tatbestand anzuerkennen, den man durch einen Abgleich zwischen einer Ausgangstheorie und einem darauf basierten Experimentergebnis zur Geltung verhilft. Denn diese Konzeption mag für die exakten Wissenschaften richtig sein, aber fürs Leben eines jeden von uns bleibt sie unzulänglich. Damit seine Auffassung der Wahrheit für alle Aspekte des Lebens Rechnung trägt, sieht James den Wahrheitsbegriff eher als einen "Prozess der Bewährung", also eine Wahrheit, die immer unterwegs zu sich selbst, genauso wie das Leben auch. Ich mache mich Vorstellungen, wie mein Leben sein wird, ich schmiede Pläne, fälle Urteile und unternehme Taten, die alles im Gang setzen und sozusagen mein Leben zum Entfalten bringen; ich korrigiere mich unterwegs dahin, ändere meine Ideen, passe sie stets den neuen Gegebenheiten und Notwendigkeiten an und lasse sie sich nach und nach bewahrheiten, wahr werden, also meine Wahrheit werden, worüber ich mich mithilfe eigener Erlebnisse und Ergebnisse vergewissere. Die Wahrheit bei James hier ist keine statische Relation der Entsprechung zwischen Gedanken und Tatsachen, sie ist vielmehr ein Vorgang der Bewerkstelligung selbst der Wahrheit, mit einem Wort, ein Ereignis.
Wichtig bei James ist auch seine Differenzierung von Lebensbereichen, wenn er von primären Wahrheitsstufen für die alltägliche Lebenspraxis bis hin zu den höchsten Stufen der wissenschaftlichen Wahrheiten spricht, wobei - der Wahrheitsstufe ungeachtet - stets die Angemessenheit der Theorie an die Lebensbedürfnisse für ihn als Charakteristikum bleibt. Darüber hinaus erhält die soziale Komponente bei James' Theorie auch Beachtung, denn für uns sind Fremderfahrungen besonders wichtig, worauf wir uns verlassen können und müssen, da keiner alles im Leben allein ausprobieren und über alles in Details Bescheid wissen kann. 

Jetzt kommen wir zu einer Gegenüberstellung der jeweiligen pragmatischen Sichtweisen von Peirce und James.
Der wissenschaftliche Hintergrund der beiden Philosophen lässt ahnen, dass sie erkenntnistheoretisch nicht mit der gleichen ‚Wellenlänge schwingen’. Zwar halten die beiden den Pragmatismus für eine Methode fürs Philosophieren, um alle Probleme zu behandeln, aber eben im Philosophieren scheiden sich die Geister. Als Wissenschaftstheoretiker bzw. Logiker konzentriert sich Peirce auf die wissenschaftliche Erkenntnis als die einzige Verkörperung des Wahrheitsbegriffs und hebt für die Forschungsgemeinschaft den exklusiven Anspruch auf die Wahrheit. Die feste Verbindung zwischen rationaler Erkenntnis und rationalem Zweck gilt für ihn als das Kriterium für die Wahrheitssuche schlechthin. Er sagt: „dass ein Begriff, d. h. der rationale Bedeutungsgehalt eines Wortes oder eines anderen Ausdrucks, ausschließlich in seinem denkbaren Bezug auf die Lebensführung besteht.“ [1] 
Weiterhin bemüht sich Peirce um eine genaue Vorgehensweise, wie wir unsere Begriffe definieren, nämlich indem wir uns stets fragen, zu welchen konkreten Wirkungen führen uns solche Definitionen, also ihre praktische Relevanz für den untersuchten Gegenstand nicht aus dem Blickfeld rücken lassen.
James aber als Psychologe benötigt zuerst für seinen Bereich einen Ansatz, wie er die menschlichen Handlungen klären kann. Er geht hierzu aus einer evolutionären Entwicklung des Bewusstseins und folgert aus dem langen Überlebenskampf, dass der Geist selbst (neben Körper) sich auch bewähren muss, indem er sich stets an Zweckmäßigkeit orientiert. Und so sieht James das Nützlichkeitsprinzip als ausschlaggebenden Maßstab, wenn es darum geht, Taten und Handlungen von Menschen zu beurteilen und zu begründen. Daher ist der Pragmatismus für James eine Erkenntnis- wie auch eine Handlungstheorie. Als strenger Logiker will Peirce, dass der Wissenschaftsbetrieb auf soliden, unwidersprüchlichen Säulen basiert, daher stellt eine möglichst präzise Begriffsbestimmung für ihn ein absolut wichtiges Thema dar. Denn die Wissenschaftler müssen eindeutige Sprache sprechen, damit sie auch der Wahrheit immer näher kommen können und das kann nur der Fall sein, wenn alle Begrifflichkeiten pragmatisch, also sachbezogen bestimmt sind. Hierzu schreibt er „In der Methodologie ist der Weg, den Konsequenzen, die den Begriffen zugehören, nachzugehen und sie zu vergleichen, sicherlich ein ausgezeichnetes Verfahren, um die differenten Bedeutungen differenter Begriffe festzustellen.“ [2].
James hingegen will seinen pragmatischen Ansatz für das ganze menschliche Leben erweitern und so hält er alles für wahr, z. B. Meinungen, Hypothesen und persönliche Erlebnisse, solange sie einen konkreten Nutzen aufweisen. Alles Geistige, etwa Gedanken, Vorstellungen usw. sind Produkte des in der Evolution entwickelten Bewusstseins, das wiederum als Instrument der allgemeinen Ökonomie der Zwecke und Widerstände ununterbrochen natürlichen, überlebenswichtigen Herausforderungen ausgesetzt ist, für die es pragmatische, also nützliche Antworten finden muss. Von daher alles, was aus diesem Bewusstsein (oder Subjekt) herauskommt kann eine Wahrheit verkörpern, solange es einen Nutzen verfolgt. Es gibt nach James sozusagen keine ‚brotlose Kunst’, denn alle mentalen Bemühungen, wie Theorien, Regeln usw. erfüllen für den Menschen Funktionen und daher sind sie nützlich, also wahr. Aus seinem evolutionären erkenntnistheoretischen Ansatz öffnet James die pragmatische Philosophie auf alle Bereiche des menschlichen Lebens, die sich von den individuellsten Erfahrungen bis zur allgemein gesellschaftlichen Angelegenheiten verteilen. Und genau hier liegt der Grund, warum gerade der Name William James mit Pragmatismus weit und breit verbunden ist als mit dem Begründer dieser Philosophie Charles Sander Peirce, obwohl dieser mehr Einfluss auf anderen Wissenschaften wie Semiotik hat. Übrigens versteht Peirce die Zeichenlehre auch in einem pragmatischen Sinne und trägt damit enorm zu ihrer Entwicklung bei, so dass sie nicht nur eine Linguistiktheorie bleibt, sondern ein wichtiger Bestandteil der Erkenntnistheorie geworden ist. Auf dieses Thema wird hier nicht näher eingegangen.

[1]: Ch. S. Peirce, Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus, S. 428f.
[2]: Ch. S. Peirce, Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus, S. 315.

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