05.04.2015

Zu den Begriffen „Interkulturalität“, „Multikulturalität“ und „Transkulturalität“



Angesicht der Globalisierung ist die Kommunikation zwischen Menschen verschiedener Kulturen in unserer Zeit mehr als ein Gebot der Ethik, sie ist schlichtweg eine Notwendigkeit geworden. Der Globalisierungsprozess erreicht heutzutage dank hoch entwickelter Transport- und Kommunikationsmittel einen Spitzenpunkt, der zuvielen konfliktvollen Wirtschafts- und Kulturinteressen führt, so dass die Frage nach den Bedingungen neuer Kommunikations- und Verständigungs-möglichkeiten für die Philosophie so aufdringlich geworden ist wie noch nie zuvor. Im Zeitalter der Massenvernichtungswaffen, der ideologischen Radikalisierung (bei vielen politischen und religiösen Fanatikern) sowie des ultrarapiden Geld- und Informationsaustauschs rund um den Globus ist das Ausmaß der Gefahr für die Menschheit nie hoch genug einzuschätzen. Wenn wir dazu die Verbreitung der Geld- und Machtgier, des Konsumdrangs, der Naturressourcenverschwendung und der damit verbundenen Umweltzerstörung in Betracht ziehen, dann haben wir ein Bild vor Auge, das uns - und allen voran die Philosophen - auffordert schnellstens zu handeln. Dieser Herausforderung versucht die interkulturelle Philosophie gerecht zu werden. Sie muss erstens feststellen, dass die Verflechtung verschiedener Kulturen dazu führt, dass es wegen des obligatorischen gegenseitigen Einflusses keine „reine“ Kultur für sich bestehen kann. Und zweitens hat jede Kultur grundsätzlich Eigentümlichkeiten, die sie von den anderen Kulturen trennen, aber auch fremd erscheinen lassen. Das Fremde störtuns, aber fordert uns auch heraus und veranlasst Dynamik und Bewegung. Konflikte und Auseinandersetzungen sind somit die Folgen. Eine Philosophie der Interkulturalität hat daher die doppelte Aufgabe, einerseits nach einem „Wesen“ der Kultur im rapiden Wandelstrom des globalisierten Zeitalters und den Kommunikationsbedingungen zwischen Kulturen zu fragen. Andererseits ist die Philosophie selbst interkulturell infrage gestellt und neu zu bestimmen ist. Diese zwei Dimensionen der interkulturellen Philosophie sind problematischer als es aussieht. Keine Philosophie beginnt beim Null, sondern geht aus einer bestimmten Kultur aus, wo sie „fußt“ und kann daher nicht für alle Kulturen sprechen weder bei der Untersuchung von Verständigungsbedingungen noch um die Philosophie selbst interkulturell neu zu reflektieren. Der Vergleich als Methode, verschiedene Kulturen zu „konfrontieren“ und nach gemeinsamen Strukturen des Menschlichen zu suchen wird von anderen als dem Gegenstand äußerlich und daher unfruchtbar kritisiert, denn Philosophie ist immer nur der Vollzug des Philosophierens, was ein Vergleich - der Philosophie nur als Gegenstand hat - nicht leisten kann.  H. Kimmerle schlägt den Dialog (auch den kontroversen) als Mittel interkultureller Philosophie, denn hierbei, seiner Auffassung nach, vollzieht sich das Philosophieren als Akt der Wandlung:

1. Die Dialogpartner sind dem Rang nach gleich, ihre Auffassungen dem Inhalt nach verschieden. 2. Dialoge sind durch Offenheit im Hinblick auf das zu erreichende Ergebnis gekennzeichnet. 3. Die Mittel und Wege, die zum Verständnis führen, sind nicht nur diskursiv-sprachlicher Art. 4. Dialogen liegt die Erwartung zugrunde, dass der Andere mir etwas zu sagen hat, das ich mir auf keine Weise, etwa durch meine Teilhabe an der allgemeinen menschlichen Vernunft, auch selbst hätte sagen können.“ (1)

Die Interkulturalität ist daher Bestandteil der Verständnisperspektive von jeder Kultur. Sie lässt sich nicht mehr definieren ohne Artikulation mit anderen Kulturformen, was auch zu deren stetigen Wandel führt. 

In diesem kulturellen Austausch erscheint eine Kulturform, eine Multikulturalität in einer einzelnen Gesellschaft, die eine „Mischung“ unterschiedlicher Kulturtraditionen darstellt. Es geht dabei nicht unbedingt um eine vollständige Integration in einer Gesellschaft, sondern eher um kulturellen „Parallelitäten“, also um nebeneinander stehendeund miteinander im Frieden lebende Kulturformen.  

Transkulturalität ist eine noch geprägte Kulturform, die sich über Gesellschaftsgrenzen hinweg durchsetzt und erscheint in verschiedenen Gesellschaften als kulturelle Standards, die neben der „eigentlichen“ Kultur einer bestimmten Gesellschaft Geltung findet. Die wirtschaftlichen und kulturellen Verflechtungen z. B. prägen eine Unmenge von Verhaltensmustern, die sich transkulturell verbreitern, wie etwa Handys, Fast Food Ketten, Kleidungsmoden und -marken, neue Tanz- und Akrobatik-Arten, aber auch sprachliche (vor allen amerikanische) „Begriffe“ sowie Sport-, Musik- und Kinostars usw.    

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Literatur:
(1) Kimmerle (2002), S. 80f.    

Die Bedeutung des Begriffs „Form“ bei Humboldt und Cassirer. Ein Vergleich



Humboldt bleibt auf der Linie von Herder und interpretiert Kultur und Geschichte der Menschheit als Ergebnis individuell wirkungsvoller Formenergien. Der Formbegriff spielt bei Humboldt eine wichtige Rolle. Er versteht die Formen (auch für ihn gleichgesetzt mit „Ideen“) als innere Formungskräfte, die zu den unterschiedlichen kulturellen Gestalten führen. Die Kulturerrungenschaften sieht er als Ausdruck von „Ideen“, die eine Art Wirkungsenergie darstellen. Zwischen dem ganzen Kulturprozess bzw. der Geschichte und den individuellen Gestaltungskräften sieht Humboldt eine Analogie. Daher denkt er, dass die Geschichtsschreibung gerade bei dieser Analogie bzw. Entsprechung ansetzt, wenn es darum geht, den ideellen Zusammenhang der Geschichte darzustellen. Humboldt zieht eine Parallele zwischen Organismen, die sich aus innerem biologischem Formprinzip herausbilden und menschlichen Charakteren (Geschichtsakteuren), die sich in der Kultur als Form-Individuen ergeben. Diese Charaktere können einzelne Menschen (Individuen) oder auch menschliche Gemeinschaften wie etwa Nationen sein. Trotz der Verschiedenheit der Kulturerscheinungen kann der Historiker aufgrund der Einheit der Formprinzipien (also der Ideen) die in dieser Kulturen wirkenden menschheitlichen Formgesetze ermitteln. In der Geschichtsphilosophie Humboldts ist die Sprache ein Zentralthema, denn er sieht sie „als eine eigentümliche Form der Erzeugung und Mitteilung von Ideen“ (1). Für ihn ist die Sprache das Charakteristikum einer Nation schlechthin: „Die Sprache ist gleichsam die äußerliche Erscheinung des Geistes der Völker; ihre Sprache ist ihr Geist und ihr Geist ist ihre Sprache, man kann sich beide nie identisch genug denken.“ (2) Die Sprache ist weitgehend mehr als ein System von Zeichen, sie ist eine Energie (gr.Energeia, nicht Werk, gr.Ergon), ein Formvorgang, kulturelle Wirklichkeit, schaffende Wirksamkeit. „Sprache ist das bildende Organ der Gedanken.“ (3). Sprachphilosophisch versucht Humboldt das menschlich Gemeinsame herauszuarbeiten, indem er das Begriffspaar „Form“ und „Stoff“ unterscheidet. Die Vielfalt und Verschiedenheit der Kulturen spiegelt den Stoff, die faktischen Sprachelemente, den Ausdruck verschiedener Völker wider. In der „Methode der Sprachbildung“ (4), den Bildungsgesetzen der Sprache und deren inneren Gestaltungsform als energetischem Wirkprinzip - nicht aber in einer universalen Sprachstruktur oder Ursprache - ist die Einheit bzw. die Allgemeinheit der Sprache und Kultur zu suchen.  Denn so wundervoll ist in der Sprache die Individualisierung innerhalb der allgemeinen Übereinstimmung, daß man ebenso richtig sagen kann, daß das ganze Menschengeschlecht nur eine Sprache, als daß jeder Mensch eine besondere besitzt.“ (5)

Cassirer gehört den Philosophen, die aus der Kultur einen Grundansatz der Philosophie machen. Wenn die Kultur den Inbegriff aller menschlichen Machenschaften darstellt, dann sind Philosophie und Wissenschaft auch kulturelle Bestandteile. Cassirer will die Kritik der Vernunft Kants zu einer Kritik der Kultur erweitern, da er denkt, dass unsere Erlebnisse mehr als das ist, was nur durch die Epistemologie zu klären ist, denn dazu gehört auch alles, wie wir unsere verschiedene geistige Funktionen ausdrücken und die Wirklichkeit gestalten. Für ihn sollen wir uns nicht mit wissenschaftlicher Erkenntnis begnügen, sondern das „Erleben“ zum neuen Leitbegriff erheben, wenn wir ein Weltverständnis anstreben wollen. Er spricht von „symbolischen Formen“, um die verschiedenen kulturellen Perspektiven über die Wirklichkeit zu bezeichnen. Daher entwirft er seine „Philosophie der symbolischen Formen“, um sich mit der Kultur als menschlichem Gesamtwerk auseinander zu setzen. Unter Symbol versteht er jede Bedeutung eines geistigen Ausdrucks, die sinnlich erfahrbar sein kann. Damit wird jede kulturelle Perspektive zu einer symbolischen Form. Er unterscheidet beispielsweise als symbolische Formen oder Lebenswelten: Sprache, Mythos, Religion, Kunst, Geschichte, Wissenschaft, Politik, die für ihn grundsätzlich verschieden sind, d.h. wieder voneinander ableitbar noch auf einander reduzierbar sind. Daher spielt die Pluralität der Formen im Kulturleben in Cassirer’s Philosophie eine Schlüsselrolle.

Wenn Humboldt von der „Form“ als ein Wirkprinzip bzw. innere Gestaltungsenergie, also als bildende Kraftspricht, sieht Cassirer hingegen die „Form“ als kulturell werdende symbolische Perspektive auf die Wirklichkeit an, also als gebildete eigenständige „Lebenswelt“, die für sich steht und eine originäre menschliche geistige Funktion zum Ausdruck bringt. Humboldt definiert und benutzt den Formbegriff, um die Verschiedenheit zwischen Sprachen und Kulturen zu denken und herauszuarbeiten, worin deren Einheit liegen kann. Cassirer verfolgt mit seinem Formbegriff aber das Ziel, die wissenschaftliche Erkenntnis zu erweitern, indem er feststellt, dass wir mehr erleben als wir nur erkenntnistheoretisch klären können und daher alle Lebensperspektive bzw. symbolische Formen, wozu die Wissenschaft auch gehört, beachten zwecks eines besseren Wirklichkeitsverständnisses.          

Nur in [...] dynamischen Gleichnissen, nicht in irgendwelchen statischen Bildern läßt sich die Form als werdende Form, [...] beschreiben. Wie die scholastische Metaphysik den Gegensatz zwischen dem Begriff der ,naturanaturata‘ und der ,natura naturans‘ geprägt hat, so muß die Philosophie der symbolischen Formen zwischen der ,forma formans‘ und der ,forma formata‘ unterscheiden. Das Wechselspiel zwischen beiden macht erst den Pendelschlag des geistigen Lebens selbst aus. Die ,forma formans‘, die zur ,forma formata‘ wird, die um ihrer eigenen Selbstbehauptung willen zu ihr werden muß, die aber nichtsdestoweniger in ihr niemals gänzlich aufgeht, sondern die Kraft behält, sich aus ihr zurückzugewinnen, sich zur ,forma formans‘wiederzugebären – dies ist es, was das Werden des Geistes und das Werden der Kultur bezeichnet.“ (6)
 
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Literatur:
(1): GPTD VII, S. 59f.
(2): GPTD VII, S. 67
(3): GPTD VII, S.79
(4): GPTD VII, S.76
(5): GPTD VII, S. 77
(6): Ernst Cassirer, "Zur Metaphysik der symbolischen Formen"
 
GPTD = Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung, Reclam/Stuttgart

 

Nietzsche und seine drei Formen der Historie, Nutzen und Nachteil



Wenn das Denken Nietzsches einen Grundcharakter haben muss, dann die Orientierung danach, was das Leben fördert, frei entfesselt und schöpferisch bereichert. In Ansehung dieser Kennzeichnung kann der Nietzsche'sche Umgang mit der Geschichte besser nachvollziehbar und nicht mehr verwunderlich, wenn er die historische Bildung als eine Krankheit deutet, woran der Mensch leiden kann:

Unzeitgemäß ist auch diese Betrachtung, weil etwas, worauf die Zeit mit Recht stolz ist, ihre historische Bildung, hier einmal als Schaden, Gebreste und Mangel der Zeit zu verstehen versuche, weil ich sogar glaube, dass wir Alle an einem verzehrenden historischen Fieber leiden und mindestens erkennen sollten, dass wir daran leiden.“ (1) 

Die Kritik der Geschichte bei Nietzsche ist geleitet von der Lebenstauglichkeit als dem Beurteilungskriterium schlechthin und fordert zu einem rechten Umgang mit ihr auf. Also ihm geht es nicht um eine wissenschaftliche Objektivität, sondern einzig um den Fokus des Nützlichen und Vorteilhaften zugunsten eines tatkräftigen, schöpferischen und freien Lebens. 

Um die Vor- und Nachteile der Historie herauszuarbeiten, unterscheidet Nietzsche drei Menschentypen nach der Art und Weise, wie sie sich mit der Geschichte beschäftigen: die Tätigen, die Bewahrenden und die Leidenden. Nach diesen drei Gruppen unterteilt er „perspektivisch“ die Historie jeweils in drei Bereiche und zeigt ihre jeweiligen Nutzen und Nachteile:

a) Die monumentalische Historie ist diejenige, in der sich die Tätigen nach großen historischen Vorbildern orientieren bei ihrem Handeln. Sie wollen auch, dass ihre Taten als wichtige Ereignisse in die Geschichte eingehen, da diese für Sie nichts mehr als eine lange Kette von historischen Taten von großen Menschen ist. Der Nutzen dieser Perspektive, liegt darin, dass die Handelnden aus deren Vorbildern Motivation ausschöpfen und sich damit in ihrer Handlungsfähigkeit gestärkt fühlen. Hingegen lauert die Gefahr, dass sie die realen Ursachen und Zusammenhänge übersehen, wenn sie stets auf das bedeutende Ereignis fokussiert sind.      

b) Die antiquarische Historie ist eine konservative Perspektive, die einen großen Wert auf die Bewahrung und Hochachtung der Vergangenheit legt. Der Vorteil dieser Art Historie liegt darin, dass die eigene Gegenwart tiefwurzelnd in die Geschichte zurückblicken kann, was dem aktuellen Leben mehr Selbstvertrauen und „Identität“ verschaffen kann. Das Nachteilige dabei ist das selektive Fokussieren bestimmter Vergangenheit, die besonders verehrt wird, was offensichtlich mit einer eindeutigen Blickeinschränkung verbunden bleibt. Eine weitere Benachteiligung des Antiquarischen kommt daher, wenn man historische Wurzel nicht allein aus der Begeisterung fürs gegenwärtige Leben sucht, sondern eher das Dagewesene als solches hochschätzt, akkumuliert und ihm vergleichend alles Gegenwärtige als verkommen und zu niedrig bewertet. „Dann erblickt man wohl das widrige Schauspiel einer blinden Sammelwuth, eines ratlosen Zusammenscharrens alles einmal Dagewesenen. Der Mensch hüllt sich in Moderduft.“ (2)

c) Die kritische Haltung gegenüber der Historie nimmt prinzipiell Abstand von der Orientierung an der Vergangenheit und somit meidet die negativen Folgen der beiden vorherigen Perspektiven. Das Neue kann nur entstehen, wenn man von der Tradition, von alten Paradigmen und Werten Abschied nimmt, denn das Historische war selbst Ergebnis eines Lebenswillens, der mal bevorstehende Widerstände überwinden konnte. Nietzsche hält die Geschichte für ungerecht und richtet seine Philosophie nicht nach den Kriterien Wahrheit und Gutheit aus, sondern einzig das Lebenstaugliche dient ihm als Orientierung. Daher denkt er, dass die kritische Haltung gegenüber der Historie auch ungerecht vorgehen und die Vergangenheit umfassend der Kritik unterziehen soll. Das exakte Abwägen der Umstände verhöhnt Nietzsche und hält es für ein „Gelehrtenideal“, das dem Lebensverlangen nicht gewachsen ist. Nichtsdestotrotz kann ein Übermaß an Ungerechtigkeit die Menschen historisch entwurzeln, was wiederum ein Nachteil ist. Mehr noch droht die Gefahr, den Ursprung eigener ungerechter Gewalt, die aus vergangener Ungerechtigkeits-erfahrung herstammt zu verkennen.     

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Literatur:
(1): KSA 1, S.246
(2): KSA 1, S.268

Der Begriff „ungesellige Geselligkeit“ in Kants Geschichtsphilosophie



Die Geschichtsphilosophie Kants bezieht sich auf einen Naturbegriff, der sich nicht am Kausalprinzip der Naturwissenschaft, sondern an dem Organischen orientiert und dessen innerer Zweckmäßigkeit. Die Freiheit und Vernunft sind beim Menschen (als Mängelwesen) die Hauptmotive seiner Kulturentwicklung, die seine Instinktfreiheit und Körperschwächen kompensieren, auch wenn sich diese Potentialanlagen „nur in der Gattung, nicht aber im Individuum vollständig entwickeln können“ (1). Kant sucht eine Art „Naturabsicht“ in der Vernunftbestimmtheit der Menschen. Er problematisiert seine Leitfrage, ob die Geschichte durch Menschwillen bestimmt bzw. vernünftig wäre: „ob es wohl vernünftig sei, Zweckmäßigkeit der Naturanstalt in Teilen und doch Zwecklosigkeit im Ganzen anzunehmen“ (2). Seine Abhandlung „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ bemüht sich, Argumente für eine Zweckmäßigkeit der ganzen Geschichte herauszuarbeiten. Er sieht das wesentliche Argument darin bestehen, dass sich die Naturanlage des Menschen in zwei antagonistische Kräfte aufteilt, nämlich eine „integrierende“, die ihn zu sozialisieren tendiert und eine, die ihn als Egoisten gegen alle durchzusetzen veranlasst. Diese widerstreitenden natürlichen Fähigkeiten beim Menschen nennt Kant „ungesellige Geselligkeit“. Mit diesem Begriff versucht Kant die Widersprüche menschlicher Neigungen zwar als Dynamik der Kulturentwicklung zu erfassen, wobei aber die „wilde“ Freiheit ohne Vernunft (also ohne Moral) zu Kampfhandlungen führen muss, die wiederum eine friedliche Gesellschaft zwischen Menschen für unmöglich machen. Im Umkehrschluss dieser Analyse Kants stellt lediglich ein Kompromiss zwischen Freiheit und Vernunft (praktisch verkörpert in Gesetzen und Staatsverfassungen) eine Basis für eine weltbürgerliche Fortschrittsgeschichte dar. Die „ungesellige Geselligkeit“ zu überwinden bzw. positiv für die Menschheit einzusetzen, zeigt die Notwendigkeit, dass die Geschichtsphilosophie in eine politische Philosophie münden muss, die für rechtliche Staatsordnungen sorgt und somit die Menschen voreinander schützt und letztendlich ein Zusammenleben in „vernünftige“ Freiheit für alle ermöglicht. „Aus Not“ kann jeder „Weltbürger“ einsehen, dass die Rechtstaatlichkeit der beste Ausweg aus den mörderischen Konflikten ist, von denen die tatsächliche Weltgeschichte eine Unmenge Belege in Form von Kriegen und gewaltigen Auseinandersetzungen darbietet. Nach Kant ist diese kosmopolitische Deutung der Geschichte selbst eine Aufklärung über die vernünftigen Möglichkeiten unserer Freiheit.               

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Literatur:
(1): GPTD VI, S. 96
(2): GPTD VI, S. 105
GPTD = Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung, Reclam/Stuttgart

Unterschiede zwischen Herders Idee der Bildung der Menschheit und der Geschichtsphilosophie der Aufklärung


 
Johann Gottfried von Herder setzt sich mit der Geschichtsphilosophie der Aufklärung auseinander, indem er den neuzeitlichen Fortschrittsoptimismus kritisiert. Für ihn ist die Vernunft als Auszeichnung des Menschlichen keine fertige mit uns gebrachte Naturgegebenheit, sondern eher eine Naturanlage, die uns zwar angeboren ist, aber nur im Laufe der Menschheitsgeschichte sich entfalten lässt. Im Unterschied zur Naturgesetzlichkeit, erfolgt die Vernunftbildung getreu seinen eigenen Gesetzmäßigkeiten. Anders gesagt, Herder deutet die Gesamtgeschichte als einen Organismus, der in sich seine „Entwicklungskeime“ trägt, wird sich aber erst mit der Zeit nach und nach bilden. In Auseinandersetzung mit den Aufklärungsidealen sieht er die Menschheit nicht als ein einheitliches Über-Subjekt, das die Geschichte in Bewegung setzt, sondern denkt, dass die menschliche Geschichte vielmehr wie ein organischer Prozess verläuft, wobei verschiedene Weisen der „Konkretisierung“ des Menschlichen zusammenwirken, etwa Individuen, Völker oder Nationen. Und gerade die Kulturverschiedenheit zwischen diesen vielfältigen Realisationsweisen ist eine schöpferische Kraft der Geschichte. Sprache spielt hierbei eine Schlüsselrolle, daher sind Geschichtsphilosophie und Kulturphilosophie bei Herder miteinander gewoben. Er ist auch überzeugt, dass sich am Ende die Vernunft durchsetzen wird, da das Mängelwesen Mensch in seinem Überleben darauf angewiesen ist, seine natürliche Fähigkeit, nämlich seine Vernunftanlage fortwährend umzusetzen, indem er von seinen vielen Irrtümern und Fehlversuchen immer wieder dazu lernt:
„Der Mensch konnte nicht leben und sich erhalten, wenn er nicht Vernunft brauchen lernte; sobald er diese brauchte, war ihm freilich die Pforte zu tausend Irrtümern und Fehlversuchen, eben aber auch, und selbst durch diese Irrtümer und Fehlversuche, der Weg zum bessern Gebrauch der Vernunft eröffnet. Je schneller er seine Fehler erkennen lernt, mit je rüstigerer Kraft er darauf geht, sie zu bessern, desto weiter kommt er, desto mehr bildet sich eine Humanität, und er muß sie ausbilden oder Jahrhunderte durch unter der Last eigner Schulden ächzen.“ (1) 

Der Begriff „Humanität“ bezeichnet die Entfaltung der natürlichen Vernunftanlagen des Menschen. Hierzu sagt Herder:

„Humanität ist der Charakter unseres Geschlechts; er ist uns aber nur in Anlagen angeboren und muß uns eigentlich abgebildet werden. Wir bringen ihn nicht fertig auf die Welt mit; auf der Welt aber soll er das Ziel unseres Bestrebens, die Summe unserer Übungen, unser Wert sein. (…) Humanität ist der Schatz und die Ausbeute aller menschlicher Bemühungen, gleichsam die Kunst unseres Geschlechts. Die Bildung zu ihr ist ein Werk, das unablässig fortgesetzt werden muß, oder wir sinken, höhere und niedere Stände, zur rohen Tierheit, zur Brutalität zurück.“ (2)

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Literatur:

(1): J. G. Herder, "Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit 2", S.217

(2): J. G. Herder, "Briefe zur Beförderung der Humanität 1", S.140
 



 

 
 

 
 
 

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

 

Jean-Jacques Rousseau und die Kulturentwicklung


J. J. Rousseau unterzieht den neuzeitlichen Kulturoptimismus einer harten Kritik. Auf die Frage, ob die kulturellen Errungenschaften den Menschen zu mehr Freiheit und bessere Moral führen, gibt er - gegen den damaligen verbreiteten Kulturoptimismus - eine negative Antwort. Bei seiner Behandlung dieser Frage, geht er von einem natürlichen Zustand aus, wobei die Menschen unter „natürlicher Ordnung“ miteinander frei leben und sich aus Selbstliebe stammendem Mitleid gegenseitig unterstützen. Mit zivilisatorischen Entwicklungen (Sprache, Kunst, Wissenschaft, Technik) wurden zwar viele Schwierigkeiten des Lebens beherrscht, aber entstanden auch Privateigentum und Aufteilung der Arbeit, wobei sich die Kluft zwischen Reichen und Armen immer größer wird und damit setzen sich Ungleichheit und Ungerechtigkeit zwischen Menschen durch. Die Selbstliebe wandelt sich in Selbstsucht und Besitzgier, woraus sich Unzufriedenheit, Unglück und Heuchelei in der Gesellschaft ergeben. Die Kulturentwicklung zieht somit mehr „künstliche Ordnung“ nach sich, also Gesetze und Konventionen, wonach sich der Mensch orientieren muss. Die Anpassung an dieser Zwangssituation betrifft vor allen die Armen, die sich letztendlich damit begnügen müssen, den Reichen zu dienen oder bei denen „schutzlos“ zu arbeiten, denn die Gesetzte sind vorwiegend für die Vermögenden und deren Schutz gemacht, für die Armen sind sie eher hindernd und unterdrückend.   
 
Trotzdem wollte Rousseau mit dieser tiefgreifenden Kritik nicht dazu aufrufen, in die „natürliche Gesellschaft“ zurückzukehren, sondern eher das Bewusstsein dafür schärfen und den Weg zu seinem auf dem Gemeinwillen aller Gesellschaftsmitglieder basierten „Gesellschaftsvertrag“ ebnen und somit zu der freien und gerechten Gesellschaft, wo nur noch der Rechtsstaat herrscht. Mit seiner Theorie zum Gesellschaftsvertrag (fr. Contrat social, 1762) als Ausdruck der Volkssouveränität hat Rousseau einen der wichtigsten Ecksteine des modernen Rechtsstaats gelegt.