24.02.2014

Wie ist die Aussage zu verstehen, dass die Kultur die Natur des Menschen sei?


Wegen seiner biologischen mangelhaften Ausstattung ist der Mensch im Gegenteil zur Tierwelt nicht in der Lage zu überleben allein kraft seines Körpers. Die Unsicherheit seiner animalischen Triebe ermöglicht ihm nicht, sich in einer natürlichen Umwelt im zoologischen Sinne zu behaupten und sich durchzusetzen. Nach seiner Geburt ist der Mensch das einzige Tier, der gänzlich und Jahrelang auf erwachsenen Menschen (z. B. Eltern) angewiesen ist, um zu überleben. Die Betrachtung von menschlichen Säuglingen zeigt offensichtlich, wie sie im Sitzen schnell das Gleichgewicht verlieren, in allen Richtungen hilflos kippen/fallen und meistens nicht von sich selbst wieder aufrecht sitzen oder auf den Rücken zurückkommen, geschweige sich in irgend einer Weise behilflich sein zu können, was Essen, Trinken oder Pflegen usw. angeht. Diese große Abhängigkeit von den anderen dauert mehrere Jahre, bis ein Kind überhaupt etwas mit „sich anfangen“ kann. Hingegen versuchen Neugeborene z. B. bei Saugtieren schon in den ersten Minuten und Stunden auf eigene Beine zu kommen und suchen sehr bald ihre Nahrung in welcher Form auch immer (z. B. Muttermilch). Auch als Erwachsene ist der Mensch gegenüber rohe Natur- und Tierwelt nicht ohne weiteres überlebensfähig. Die Natur (oder Gott) hat aber dem Menschen mit einem relativ größeren und intelligenteren Gehirn versehen (*), das ihm in die Lage versetzt, sich seinen biologischen Nachteilen zu stellen, indem er sich durch „Technik“ im weitesten Sinn unterstützt. Im Laufe seiner unzähligen Jahrhunderten Lebensgeschichte hat der Mensch alle möglich denkbaren „Werkzeuge“ zuerst von der Natur (z. B. Steine, Baumteile, Tierknocken, Tierhaut, usw.) benutzt und nach und nach diese „Hilfsmittel“ weiterentwickelt und verfeinert bis er auch – ausgehend von Rohstoffen - selber welche herstellen kann (Töpferei, Seilen/Textilien aus Wolle oder Pflanzen, Eisenteile, Messer, Schwerte, usw.). Diese Entwicklung gilt für „Hilfsmittel“ zu seinem Schutz gegen Naturphänomene (wie Regen, Kälte, Hitze, Wind, u.ä.m.), gegen Raubtiere oder anderen ihm fremden Menschen wie auch für die Suche und Vorbereitung seiner Nahrung und später auch für den Ackerbau, den man übrigens auch „Kultur“ nennt. Eine genaue Betrachtung aller Unternehmungen des Menschen für sein Überleben, die v.a. darauf basiert sind, dass er ein denkfähiges Lebewesen ist, zeigt, dass er zugleich ein Natur- und Kulturgeschöpf ist. Wie jedes andere Tier muss er seine natürlichen Bedürfnisse wie Hunger, Durst, Sexualität, Schutz, u.v.m. erfüllen, aber wie er das tut, nämlich durch Hilfe von technischen Mitteln, macht aus ihm ein künstliches Geschöpf, also das Kulturwesen schlechthin. Dank seiner noetischen Natur, seiner Vorstellungskraft und Vernunft bleibt der Mensch nicht bei der Erfüllung der lebensnotwendigen Bedürfnisse stehen, sondern geht Schritt nach dem anderen weiter v.a. nach der Entwicklung der mündlichen Sprache und später der Schriften und Ziffern, um hohe Kulturformen zu entwickeln, die ihm Unterhaltung, Kommunikation, Gedächtnisbewahrung über Generationen hinweg und kommerziellen Austausch mit anderen verschaffen. Nietzsche sagt von der Sprache, dass sie die erste menschliche Bemühung um die Wissenschaft. Und so konnte der Mensch schreiben und rechnen lernen, Geschichte erzählen, Mythologien erfinden und später Mathematik, Medizin, Religion, Musik und alles, was den Menschen bis heute kennzeichnet. Als Naturkind wie alle Lebewesen ist der Mensch seiner Mutternatur treu geblieben, was seine biologischen Ansprüche angeht, aber dank seiner Denkfähigkeit entwickelt er sich zu dem Kulturwesen per Exzellenz, wobei Natur und Kultur bei ihm nicht als zwei Entwicklungsstufen anzusehen sind, die zeitlich nacheinander und getrennt anzureihen sind, sondern eher als einen Doppelaspekt zu verstehen, der ihn von Anfang an begleitet, so dass man sagen kann, die Kultur ist die zweite Natur bei dem Menschen, da seine Kulturbemühung in erster Stelle eine notwendige Kompensation seiner Naturdefizite früher wie heute ist, wenn auch heutzutage vieles als Überfluss oder auch als Luxus bis Reinverschwendung von Naturressourcen scheint, was der Mensch kulturmäßig, also technisch, wissenschaftlich oder künstlich schafft.    

Kommentar zum Thema "Mensch als Mängelwesen":

Logisch wie es klingt, dass die Kultur beim Menschen liegt darin begründet, seine biologischen Schwächen und Unzulänglichkeiten auszugleichen, halte ich diesen Gesichtspunkt trotzdem für unzureichend, das menschliche Kulturschafen zu untermauern. Der Mensch musste doch anfangs überleben, bevor er sich in seiner Umwelt einrichten konnte, denn die aller ersten Menschen auf Erde haben es geschafft, sich gegenüber Naturherausforderungen und andere Lebewesen durchzusetzen, sonst hätten sie nicht überlebt und daher wäre offenbar die Menschheit heute nicht da. Ich denke, dass der Mensch eher genauso lebensfähig zur Welt kann, wie alle andere Tiere, die überleben konnten, aber erst mit der Zeit und dank seiner "Geistigkeit" konnte er nach und nach seine Umwelt organisieren, um effizienter, sicherer und angenehmer zu leben, was wiederum dazu allmählich geführt hat, dass er die Fähigkeiten verliert, die er nicht mehr benötigt, wie der Volksmund sagt: "Wer rastet, der rostet". Wir beobachten z. B. täglich, wie die wilden und starken Eigenschaften bei Haustieren zurückgehen, nach dem sie nicht mehr benutzen und sie sich sicher und nicht mehr bedroht fühlen. Hingegen gewinnen Menschen z. B. durch langjährigen Sport neue Fähigkeiten wie scharfe Reflexe, genaue Reaktionen gegen Fremdangriffe und enorme Kraft insbesondere bei Kampfkünsten. Ich denke hier v.a. an berühmten (legendären) Sportmeistern, die Kampfdisziplinen selbst erfunden oder weiterentwickelt haben, obwohl es schwer denkbar, dass ein individueller Mensch in seinem relativ kurzen Leben, alles zurückerobert, was die Menschheit in Millionen Jahren an Naturtalente stückweise verlernt und verliert hat. Der Mensch konnte im Laufe der Jahrhunderten seine 'Überlebensnaturwaffen' allmählich aufgegeben als er sie nicht mehr nötig hat und nach dem er sie durch sein Kulturschaffen (zumindest im materiellen Sinne) ersetzt hat. Anderseits wusste schon Aristoteles, dass der Mensch mehr braucht als "Brot", um zu leben, denn er hält die Vernünftigkeit bei den Menschen auch als Bedürfnis, die genauso befriedigt werden muss wie die biologischen Bedürfnisse und denkt infolgedessen z. B., dass das philosophische Leben (bios theoretikos) am glücklichsten sein solle, weil er seine Freiheit und Vernunftfähigkeit am meisten beansprucht. Die Kultur als der exklusive Aspekt des Menschseins schlechthin ist für mich nicht nur eine Antwort auf die Frage der biologischen "Unzulänglichkeiten", sondern zugleich eine Antwort auf das menschliche Streben, sich selbst stets zu transzendieren, sonst wäre etwas wie Kunst, Musik, Mathematik und u. ä. m. nicht gegeben, die zumindest am Anfang keine direkte Antwort auf biologische Bedürfnisse waren.


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(*) Nach Wissenschaftlern soll sich das menschliche Gehirn auch stets entwickelt haben (in Größe und Effizienz) und dies aufgrund v.a. von gekochtem Fleisch (nach der Entdeckung des Feuers). Wenn der Mensch mit „Denkfähigkeit“ ausgestattet war, gering wie sie auch anfangs sein mochte, und die er immer weiterentwickelte (Not und Gefahr machen erfinderisch; Versuch und Irrtum), dann ist der Mensch – so gesehen – von vornherein gar nicht benachteiligt war, sonst hätte er evidenter Weise gar nicht überleben können. Im Gegenteil, er schaffte sogar allmählich ein Herrschaftsverhältnis zur Tierwelt und in vielen Hinsichten auch zur Natur insgesamt, wenn wir von den großen Naturphänomenen wie z. B. den Wetterherausforderungen oder Erdbeben absehen, die die menschliche Kultur (in diesem Fall v.a. Wissenschaft und Technik) überfordern.  

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