24.11.2011

Kausalitätsgesetz bei Hume und Kant


Bevor wir uns mit dem Unterschied befassen, wie Hume und Kant jeweils den Begriff „Kausalität“ versteht, stellt sich zuerst die Frage: Was bedeutet Kausalität im Allgemeinen? Der Mensch als Vernunftwesen, kann sich kein Seiendes aus dem Nichts entsehend vorstellen. Damit überhaupt etwas ist bzw. wird, sei es ein Ding oder ein Vorgang, muss dahinter ein Grund, eine Ursache stehen. Die Welt scheint den Menschen wie eine unendliche Verkettung von Ursachen und Wirkungen, d.h. eine Ursache ergibt eine Wirkung und die letzte wird selbst zu einer Ursache anderer Wirkung und so fort. Die strengste Vorstellung solcher Verkettung hat manche Philosophen veranlasst, ein causa prima für die Welt anzunehmen und darauf aufbauend alle Dinge und Vorkommnisse zu begründen. Ein Stellvertreter dieser Richtung ist der erste Beweger von Aristoteles, um nur ein Beispiel zu nennen. Diese allgemeine Definition der Kausalität scheint offenbar zu sein. Aber eben nur „scheint“ und muss nicht für jeden gelten.
Hume als Empirist also jemand, der jede Erkenntnis nur a posteriori versteht, wird zwangsläufig keine Gesetzmäßigkeiten etwa Ursache-Wirkung in den Naturgeschehnissen voraussetzen, denn das würde bedeuten, dass der Mensch der Natur zuvorkommt und voraussieht, was sie zukünftig vorhat und das wiederum würde logischerweise nach sich ziehen, dass wir etwas apriorisch wissen können. Und in der Tat, was wir üblicherweise Kausalität nennen, etwa beim Beobachten eines Zusammenstoßes zweier Tennisbällen, indem wir sagen, der Stoß bringt die Bälle zum Bewegen, ist aber für Hume nicht weiteres als ein Erleben von zwei Bällen, die vor dem Zusammenprall in Bewegung waren, dann sehen wir, dass sie in Kontakt miteinander kommen und wieder auseinander weggehen. Das heißt aber nicht im Hume’schen Sinne, dass hier der Stoß eine Ursache und das Auseinandergehen deren Wirkung sein müssen. Wir beobachten diese Vorkommnisse wie sie einfach passieren, ohne ein Gesetz dahinter voraussetzen zu dürfen, denn keiner kann uns sicher belegen, dass diese Vorkommnisse miteinander gekoppelt sind geschweige sich auch in der Zukunft wiederholen werden. Es geht nach Hume lediglich um menschliche Gewohnheiten, will heißen die Menschen haben sich daran gewohnt immer wieder Geschehnisse zu beobachten wie etwa den Stoß von Gegenständen und die diesem Ereignis begleitende (nicht aber daraus entsehende) Bewegung und somit haben sie unter dieser Wiederholbarkeit ein Gesetz angenommen, nämlich eine kausale Beziehung von Ursache (Stoß) und Wirkung (Bewegung). Abstrakter ausgedruckt, sind für Hume lediglich Ereignisse zu beobachten, die räumlich nebeneinander und zeitlich nacheinander vollziehen, aber keine notwendige kausale Verknüpfungen darin vorauszusetzen sind. Hume ist gegen die Vorstellung, dass eine notwendige Verbindung zwischen Ursache und Wirkung herrscht. Keine rationale Argumente liegen dafür vor, sondern einzig Gewohnheit und Assoziation führen subjektiv zu jenem Trugschluss:
„Wenn aber viele gleichförmige Beispiele auftreten und demselben Gegenstand immer dasselbe Ereignis folgt, dann beginnen wir den Begriff von Ursache und Verknüpfung zu bilden. Wir empfinden nun ein neues Gefühl […]; und dieses Gefühl ist das Urbild jener Vorstellung [von notwendiger Verbindung], das wir suchen.“ Eine Konsequenz Hume’schen Empirismus ist, eine sichere Erkenntnis ist grundsätzlich nicht möglich, da der Zweifel an der Kausalität bei Hume zu einem grundsätzlichen Zweifel an allem mündet, was als Naturgesetz bezeichnet werden kann, denn aus Regelmäßigkeiten, die wir in Vergangenheit beobachtet haben, können für ihn keine induktiven Gesetzmäßigkeiten gefolgert werden. Trotzdem verwirft Hume nicht radikal unsere Fähigkeit zu einer gewissen Erkenntnis, denn sonst würde ja keine Naturwissenschaft geben. Nur die Begründung dieser Wissenschaften genießt niemals eine letzte Gültigkeit oder absolute Sicherheit. Die empirische Erkenntnis fußt allein auf das Ähnlichkeitsprinzip, was heißt, Gewohnheit unseres Denkens, aus einander ähnlichen Tatsachen auf Folgerungen über deren Korrelation zu schließen. Es handelt nach Hume lediglich um eine psychologische Notwendigkeit. Auch anhand des Gewohnheitsprinzips versteht Hume die Kausalität: Wir führen eine Wirkung auf eine bestimmte Ursache zurück, denn wir beobachten die chronologische Abfolge bestimmter Tatsachen und folgern per Gewohnheit, dass es um eine kausale Verknüpfung geht.

Kant sagte, Hume habe ihn aus seinem dogmatischen Schlummer geweckt und hat somit diese Hume’sche Kritik als methodisch richtig anerkannt. Widmen wir uns jetzt dem Philosophen Kant und wie er das sogenannte Kausalitätsgesetz denkt, nach dem er seinen „dogmatischen Schlummer“ längs hinter sich hat und seine eigene kritische Philosophie reif ausarbeitete. Unter dem sog. „dogmatischen Schlummer“ fällt u.a. die rationalistische „Ansicht“, dass es eine Erkenntnis aus reinem Verstand möglich wäre. Eine Erweckung aus diesem Dogma führte dazu, dass solche Erkenntnis für Kant auch nicht mehr möglich ist, ohne Verbindung mit sinnlicher Anschauung.
Kant teilt bekanntlich die Welt in zwei auf, die Welt der „Dinge an sich“ und die deren Erscheinungen. Die erste bleibt uns verschlossen und Zugang haben wir einzig zu der zweiten, also zu den Erscheinungen. Daher kann jedes Verständnis von Kant der Kausalität nur noch auf die Erscheinungen bezogen sein. Im Gegensatz zu Hume, postuliert Kant die Kausalität als eine Notwendigkeit, ohne deren Existenz können wir die Welt nicht verstehen, denn sie liegt der Erkenntnis strukturell zugrunde. Sie ist eine Kategorie und bedingt der Erfahrung, sie gilt apriorisch und erst durch sie wird Erfahrung überhaupt möglich und nicht umgekehrt.
Kant betont bekanntlich die apriorischen Bedingungen aller Erkenntnisse, jedoch nicht um Erkenntnis rein rational zu erzielen, sondern kombiniert mit Erfahrung, die für ihn sogar den Aktivitätszünder des Versandes darstellt: „Daß alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel; denn wodurch sollte das Erkenntnisvermögen sonst zur Ausübung erweckt werden, geschähe es nicht durch Gegenstände, die unsere Sinne rühren [...]. Der Zeit nach geht also keine Erkenntnis in uns vor der Erfahrung vorher, und mit dieser fängt alle an.“ [Kant, Kritik der reinen Vernunft, B S 1ff.]
Der Begriff „Erkenntnisvermögen“ aus dieser Zitat verrät viel, wenn nicht alles, wie Kant seine Erkenntnistheorie konzipiert. Alles, was als a priori von ihm durchgedacht ist, steckt in diesem menschlichen Vermögen, das zuerst eine Erfahrung überhaupt möglich macht und dann (im zweiten Schritt) aus dieser wiederum Erkenntnis gewinnt bzw. synthetisiert.
Was ist dann mit der Kausalität in dieser kantischen Konzeption?
Kant unterscheidet zwei Quellen der Erkenntnis, nämlich Sinnlichkeit und Versand bzw. reine Anschauungsformen (Raum und Zeit) und reine Verstandsformen (reine Begriffe, Kategorien). Daher ist die Kausalität als Kategorie auch ein notwendiger Bestandteil dieses Vermögens, nicht aber wie bei Hume ein durch Gewohnheit und Assoziation a posteriori und nur subjektiv erzeugtes „Nebenprodukt“, das keine apriorische Wurzel im Versand hat.
Als eine seiner zwölf Kategorien, ist die Kausalität eine Grundregel des Verstandes, die es bereits vor jeder Erfahrung in uns gibt und stellt eine wichtige Denkfunktion dar.

05.11.2011

Die Bedeutung der Falsifikation im Kritischen Rationalismus

Um den Begriff „Falsifikation“ bei Karl Popper zu erklären, wird ein Überflug der Wissenschaftsphilosophie benötigt, wie dieser Bereich der Philosophie sich entfaltete bis zum kritischen Rationalismus. Der wesentliche Zeitpunkt für diese Geschichte begann mit der Neuzeit, wo die zwei großen Schulen „Rationalismus“ und „Empirismus“ stark entwickelt wurden, obwohl ihre Geburt als philosophische Konzepte längst vorher stattfand.

Der neuzeitliche Rationalismus postulierte, dass eine wissenschaftliche Theorie allein durch Vernunft und anhand der Deduktion entfaltet und bewiesen werden kann, wobei der neuzeitliche Empirismus dagegen stand und allein der Sinnerfahrung und der Induktion das letzte Wort aufräumte, wenn es um Erkenntnis der Wirklichkeit und Aufstellung deren wissenschaftliche Theorien handelt.

Das Aufkommen der modernen Zeit mit all seiner großen wissenschaftlichen Errungenschaften insbesondere der Relativitätstheorie und der Quantenmechanik hat dazu geführt, dass nicht nur die klassische Vorstellung der Wissenschaften verblasste, sondern auch alle philosophische Theorien und allem voran die rationalistische und empirische Weltsicht.

Das Verifikationsprinzip gilt als Angelpunkt für alle empirische Theorien und insbesondere für den logischen Empirismus, der alles daran setzt, Begrifflichkeiten und Aussagen metaphysischen Charakters, also alles, was nicht anhand Tatsachen überprüfbar ist, aus der Philosophie und Wissenschaft zu bannen. Der Empirismus will aber einerseits induktiv vorgehen, um Theorien aufzustellen und anderseits diese Theorien, die letztendlich All-Sätze in der Wissenschaft darstellen der Verifikation unterliegen. Zweierlei Forderungen, die logisch nicht haltbar sind. Denn induktiv heißt in letzter Analyse selektiv, also aus Stichproben Verallgemeinerungen zu postulieren, also wissenschaftliche All-Sätze zu formulieren. Ein All-Satz ist aber logischerweise empirisch nicht verifizierbar, denn keiner kann alle denkbare Exemplare einer All-Aussage überprüfen, als wäre z. B. möglich, empirisch sicherzustellen, dass „alle Raben schwarz sind“. Eher ist es logisch, diesen All-Satz zu falsifizieren, denn es reicht dafür ein einziges Gegenbeispiel, nämlich einen nicht-schwarzen Rabe zu finden. Und genau hier setzt der Vater des Kritischen Rationalismus Karl Popper an und entwirft das Falsifikationskonzept als Gegenpol zum bisher bekannten Verifikationsprinzip. Er geht noch weiter gegen den Empiristen und denkt zuerst wie die Rationalisten, dass wissenschaftliche Theorien eher deduktiv entwickelt werden, aber - und hier wird er kritisch und distanziert sich vom traditionellen Rationalismus - diese Theorien sind bloße hypothetische All-Sätze, die dann stets an der Erfahrung gemessen werden und nur solange gelten bis sie durch Tatsachen falsifiziert werden. Poppers Falsifikationsprinzip ist somit ein Abgrenzungskriterium zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft, denn eine durch Deduktion aufgestellte Theorie ist nur insofern wissenschaftlich, wenn sie eine hypothetische Geltung hat und immer wieder mithilfe Beobachtungen überprüft wird, bis sie sich einmal anhand einer harten Tatsache als falsch erweist, also falsifiziert wird.

25.09.2011

Kants apriorischen Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis

Als Vermittler zwischen Rationalismus und Empirismus, sieht Kant die Erkenntnis zugleich auf zwei Säulen basierend, nämlich auf dem Verstand im Vorbild der Rationalisten einerseits und auf der Sinneserfahrung im Sinne der Empiristen anderseits. Dieses Paar „Sinnlichkeit/Verstand“ stellt für Kant keinen Gegensatz dar, sondern ein notwendiges Zusammenspiel, damit die Erkenntnis überhaupt möglich ist. Da die Sinneserfahrung lediglich fragmentäre Reizeindrücke liefert, bedarf es noch der aktiven Verstandsfunktion, die durch Begriffsbildung erst einen Gegenstand aus den einzelnen Sinnesreizen entstehen lässt. Diese Verstandsfunktion ist nach Kant spontan, wirkt auf die Sinneserfahrung, aber selber ist sie kein Erfahrungsprodukt, sie ist eher apriorisch im Subjekt vorhanden in Form von Ordnungsmustern und Gesetzmäßigkeiten. Und genau diese letzten sind nach Kant die apriorischen Bedingungen der Erkenntnismöglichkeit, denn davon hängt gleichzeitig die Anschauungs- und Begriffsbildung ab.
Der kantische Satz: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind“ bringt seine Erkenntnistheorie auf den Punkt. Damit verheiratet er die sinnlichen Anschauungen als erste Voraussetzung einer Erfahrung mit den Begriffen als aktiver Leistung des Verstandes, wobei eine Anschauung selbst nur zustande kommt, weil der Mensch über Ordnungsformen wie Zeit und Raum a priori, also vor jeder Erfahrung verfügt. Dieses Vermögen des menschlichen Verstandes stellt die apriorischen Bedingungen der Erkenntnismöglichkeit dar. Mit diesen apriorischen Bedingungen ergänzt Kant die empirische Erkenntnistheorie, die alle Erkenntnis allein auf die Erfahrung zurückführt und jede Erkenntnis nur aposteriorisch, also erfahrungsbedingt anerkennt.

19.09.2011

Das Metaphysikverständnis des neuzeitlichen Rationalismus

Diese Frage enthält zwei Grundthemen, die Metaphysik und den Rationalismus der Neuzeit. Zielsetzung dieser Frage ist die Charakterisierung deren Beziehung, insofern der neuzeitliche Rationalismus die Metaphysik versteht.
Es kann allgemein gesagt werden, dass die zentrale Entwicklungslinie abendländischer Philosophie sich überhaupt einerseits in der Auseinandersetzung mit der Metaphysik als Inbegriff von Philosophie und daher als höchster Wissenschaft und anderseits in der Kritik dieses Anspruchs aufzeigt. Diese Kritik erreicht ihren Gipfel mit dem Heraufkommen der Neuzeit, insbesondere mit Immanuel Kant. Der Kernpunkt des Metaphysikverständnisses liegt sodann für den neuzeitlichen Rationalismus in diesem kritischen Umgang, der v.a. durch Kant erstmals in Der Philosophiegeschichte so radikal wie vollständig betrieben wird.
Seit Aristoteles erhebt die prima philosophia (später Metaphysik genannt) den Begründungsanspruch alles Wissens zu sein. Dies führt im Laufe der Geschichte zu kontroversen Grundgedanken und Argumentationen, jedoch bleiben ein paar Grundlagen für die Metaphysik führend. Eine dieser Leitgedanken ist der Optimismus, dass die Vernunft in der Lage ist, die ganze Wirklichkeit durch eine Theorie zu beschreiben. Mit diesem ungeheuren Anspruch versucht der neuzeitliche Rationalismus fertig zu werden, indem er seine Aufgabe darin versteht, diesen Anspruch mit dem schärfsten Messer der Kritik zu analysieren und zu überprüfen. Den ernsthaften und nachwirkendesten Anfang schafft Kant mit seinen berühmten Kritiken.


15.09.2011

Die vier Seinsursachen bei Aristoteles

Allgemein gilt es, dass Aristoteles' Philosophie eine Ontologie des Werdens ist. Sie behandelt die natürlichen Dinge, insofern sie in Bewegung sind und sich verändern. Und was er Ursachen postuliert, sind für ihn die Grund- bzw. die Seinsprinzipien, die notwendig sind, damit ein Seiendes wirklich wird. Das Begriffspaar Möglichkeit/Wirklichkeit spielt eine zentrale Rolle bei dieser Metaphysik des Werdens. „Alles, was sich verändert, geht von einem Zustand der Möglichkeit mit Blick auf das, wozu es möglich ist, in einen Zustand der Wirklichkeit über.“ [Rapp, Christoff; Aristoteles zur Einführung].
Aristoteles unterscheidet vier Ursachen, die er wiederum in zwei innere und zwei äußere Prinzipien eines Seienden aufteilt und jeweils als Stoff-, Form-, Wirk- und Ziel-Ursache definiert.
Die Wirkursache ist eine Art Triebkraft, die ein Seiendes hervorbringt. Sie ist unserem modernen Verständnis von Ursache am nächsten. So ist z. B. der Bäcker Wirkursache des Brotes.
Weshalb wird die Wirkursache tätig, was ist das Motiv und der Zweck eines Handelns, das definiert Aristoteles als Zielursache. Diese Finalursache wird meistens als eine teleologische Erklärung interpretiert, als liefe alles nach einem vorbestimmten Plan, der durch eine transzendentale Zentralintelligenz entworfen und überwacht würde. Wenn es um intentional handelnde Wesen geht, wie ein Spaziergänger, der als Zweck seine Gesundheit im Auge hat, dann scheint uns die Zielursache unproblematisch. Aristoteles nimmt aber vielmehr an, dass bei natürlicher Vorgänge eine Zielverfolgung im Spiel ist, was als teleologische Naturerklärung gesehen wird und für die moderne Zeit nicht von jedem nachvollziehbar ist.
Wenn bei Platon die Idee das ideale leere Maßstab, woran einem Ding durch Teilhabe ein geringeres Sein zugesprochen wird, ist bei Aristoteles die Form als inneres Prinzip, die die Washeit und das Wesen eines Seienden bestimmt. Sie existiert nicht absolut für sich, sondern lediglich in der Vielfalt der konkreten Dinge. Es gibt nicht „Den“ Stuhl, sondern stets verschiedene Stühle.
Um diese Vielfalt in deren Unterschiedlichkeit zu erklären, führt Aristoteles sein letztes inneres Prinzip der Stoffursache ein. Das ist die Materie, die das wirkliche Wesen eines konkreten Seienden (eines Stuhls) letztendlich hervorbringt, indem die innere Form sich materiell im Vorschein tritt.
Wir müssen jedoch anmerken, das diese Begriffe der Form und Materie bei Aristoteles nicht ohne weiteres im Raster unseres modernen naturwissenschaftlichen Verständnisses passen, nämlich die Form als äußere Gestalt und die Materie als sinnlichen physikalischen Stoff zu begreifen. Sie sind für ihn eher ein Zusammenspiel geistiger Bestimmung und Möglichkeit. Er sieht in die Form das allgemeine geistige Prinzip, das ein Ding zu dem macht, was es ist. Sie ist sozusagen das innere Programm, das die Entfaltung eines Seienden ermöglicht. Die Form ist weiterhin plural, es geht stets um eine bestimmte und von den anderen unterschiedene Form und daher keine Form enthält alle Seinsmöglichkeiten. Ein Seiende ist demnach eine zur Wirklichkeit gewordene (geformte) Möglichkeit der Materie und das ist die letzte, die weiterer Veränderungen zu Grunde liegt und damit den Übergang von einer Form zur anderen hervorruft.


08.09.2011

Der „Weltbegriff“ der Philosophie nach Kant

Kant spricht von der Philosophie als Weltbegriff, wenn es um Welt- bzw. Menschheitsfragen handelt, die jedermann notwendig interessieren. Aus seinem Vertrauen auf eine den Menschen gemeinsamen Vernunft, ergibt sich für Kant, dass die Menschen in der Lage sind, Ihre willkürliche subjektive Meinungen zu überwinden und zu gemeinsamen Einsichten zu gelangen. Es war dem Philosophen, der seinen Geburtsort kaum verlassen hat, bereits damals ersichtlich, dass es für die Menschen unerlässlich ist, damit sie in Frieden und Fortschritt leben, einen Kompromiss zwischen allen Interessen zu finden und in einer Art Völkersbund zu leben.
Die Philosophie nach ihrem Weltbegriff kann deutlicher werden, wenn man sie in Abgrenzung zur Philosophie als Schulbegriff definiert. Indem die Philosophie im letzten Sinne sich mit den logischen philosophischen Systemen auseinandersetzt und sich lediglich auf den Zweck der Erkenntnis beschränkt ohne die Handlungsdimension in Betracht zu ziehen, beschäftigt sich die erste mit Problemen, die Mensch und Gesellschaft bewegen. Jedoch ist es ein schwieriges Thema, Fragen zu definieren, die gleichzeitig und -wertig allen Menschen interessieren. Diese Schwierigkeit weist zumindest zwei Dimensionen auf. Einerseits ist es fragwürdig, allen Menschen eine gemeinsame Vernunft (als Voraussetzung gemeinsamer Einsichten) trotz Kultur- und Traditionsunterschieden zuzumuten zumal nach der Radikalisierung der Vernunftkritik in dieser Hinsicht. Und sind anderseits die als von Weltbedeutung erkannten Probleme auch tatsächlich philosophischer Art bzw. kann die Philosophie bei deren Lösung etwas beitragen?
Grundsätzlich haben alle den Menschen interessierende Probleme eine philosophische Dimension auch wenn deren Lösung anscheinend rein wissenschaftlich-technischer Art sind. Die Philosophie als kritische Nachdenklichkeit und im Aristotelesschen Sinne als Wissenschaft der Urgründe und Prinzipien ergründet, welche tiefsitzende Gründe hinter Problemen stecken und ob man nicht durch Begründung einer Handlungsethik die Entstehung dieser Problemen unterbinden oder zumindest deren katastrophalen Ausmaß  mindern kann. Wobei die Moral hier nach Kant auch als Akt der Vernunft, nämlich der praktischen nicht der reinen zu verstehen. Die Philosophie soll nach Kant den Menschen dienen und kein „l'art pour l'art“-Betrieb sein.
Trotz Radikalisierung der Kritik bezüglich Vernunftbedingtheit von Geschichte und Kultur und angesichts der schrecklichen Erfahrungen der Massenvernichtung der Menschen und der latenten Globusbedrohung durch angehäuften unkonventionellen Waffen in einer globalisierten Welt samt all, was dazu gehört vom Positiven wie Negativen ist die Philosophie Kants nach ihrem Weltbegriff noch nie so aktuell und beachtenswert wie für unsere Zeit.

03.09.2011

Notwendigkeit einer philosophischen Vernunftkritik

Man übt Kritik mit dem, was uns problematisch erscheint, etwa mit einer Theorie, einem Begriff oder einer Philosophie, die einen Mangel, Schwäche oder gar Gefahr verbergen. Wenn die Kritik Untersuchen, Analysieren, Vergleichen, Überprüfen und Beurteilen bedeutet, dann ist eine Kritik der Vernunft selbst am schwierigsten. Denn die Behandlung dieser Frage ist ihrem Charakter nach ein Denken übers Denken. Unter Einsatz der Vernunft soll die Vernunft an sich selbst Kritik üben und scheint paradox zu sein.
Zuerst wie ist der Begriff „Notwendigkeit“ in unser Frage zu verstehen? Soll die Vernunft sich genötigt sehen, sich selbst zu kritisieren?
Eine philosophische Vernunftkritik ist angesichts der Philosophie als Prinzipien- wissenschaft nicht anders als die Erforschung der Gründe bzw. Ursachen, die eine Vernunftkritik legitimieren, wenn nicht notwendig machen. Was können dann solche Gründe sein?
Nach dem die Vernunft seine erfolgreichste „Karriere“ in der Aufklärungszeit erlebte, wurde dann nach und nach für die Menschheit problematisch.
Ein Überblick über die sog. unakademische Denker zeigt uns, welche Einwende können gegen eine Herrschaft der Vernunft bzw. idealisierte Vernunftsysteme erhoben werden. Schopenhauer beispielsweise sieht den Menschen als ein Lebewesen, der nicht durch Vernunft geführt sei, sondern durch einen dunklen triebhaften und tiefsitzenden Wille. Er sieht ihn in einer Linie mit aller Dinge dieser Welt (seiner Welt als Wille und Vorstellung), die ihre Bewegung diesem triebhaften Willen verdankt. Sein Satz „Wie die Hand zum Greifen, ist der Geist zum Begreifen da“ verdeutlicht, dass alles in diesem tiefsitzenden Willen begründet liege und dadurch gar zum Leben gerufen sei.
Soren Kierkegaard setzt der idealistischen Vernunft die konkrete Existenz einzelner Menschen entgegen. Sie kann nicht in allgemeinen Kategorien verstanden und in kein philosophisches System gepresst werden.
Friedrich Nietzsche, um nur diese Beispiele zu nennen, stellt gegen die Vernunft das Leben, das in seiner Vielfältigkeit, ja Widersprüchlichkeit jedem Gedenken einer absoluten Wahrheit entgegenstehe.
Vernunftkritik ist eigentlich Kritik der Herrschaft der Vernunft auf die Dinge. Das heißt Kritik der Vernunft, wenn sie den Anspruch erhebt die letzte Instanz sein zu wollen, die das letzte Wort hat, wenn es darum geht, die Menschen und Dinge in deren Gesamtdimensionen zu erfassen und somit zu beurteilen. Also ein totalitäres System schaffen, in dem alle und alles reinpassen sollen. Dieser ungeheure Anspruch ist nicht nur undurchführbar, sondern auch gefährlich und endet wegen seiner enthaltenden Widersprüchlichkeit und Einseitigkeit zwangsläufig beim Absurden und früh oder später sogar beim katastrophalen Zusammenbruch. Die Geschichte hält jede Menge Beweise dafür zur Auswahl parat.
Wenn Heidegger von „Seinsvergessenheit“ spricht, meint gerade das, unter Einsatz der Vernunft konnte die Menschheit vieles erreichen, nämlich im praktischen Sinne, sprich die technisch-wissenschaftliche Entwicklung und damit andere wichtige Dimensionen aller Seienden in Vergessenheit geraten ließ. Die Vernunft wurde seit seiner goldenen Zeit, nämlich der Aufklärung immer mehr Instrumentalisiert und rein pragmatisch eingesetzt, um eine Welt der  wissenschaftlich-technischen Erzeugnissen zu schaffen, eine Welt als Haus der Waren, die massenhaft herumliegen, ohne dazwischen erkennbare Beziehung oder Sinn. Eben diese wissenschaftlich-technisch-orientierte Vernunft muss unter die philosophische Lupe genommen werden, damit aus der Warenwelt ein bewohnbares Haus für die Menschen entstehen kann.

Zusammenhang von Lebenserfahrung und Nachdenklichkeit

Lebenserfahrung kann in zweierlei Hinsichten gedeutet werden. Betrachtet man die Erfahrung als das, was man bereits erfahren bzw. erlebt hat, also im Bezug auf die Vergangenheit, dann spricht man von Lebenserfahrung als Weisheit. Aber man kann auch von Erfahrung sprechen als das, was man noch zu erfahren bzw. zu erleben hat, also im Bezug auf die Gegenwart und die Zukunft. Trotz dieser Unterscheidung scheint das Verhältnis dieser Erfahrungsformen dialektisch zu sein. Denn das in der Vergangenheit Erfahrene wirkt notwendigerweise auf das jetzt und später zu Erfahrende aus. Umgekehrt bereichert das neuerdings erworbene Erfahrung unser „Erfahrungsvorrat“, ja unsere „Weisheit“ vorausgesetzt, eine Nachdenklichkeit begleitet uns und deutet alle Ereignisse, die wir erleben. Das Nachdenken über Ereignisse und der Versuch deren gewöhnlichen Charakter zu überwinden und dahinter nach tief zugrunde liegenden Ursachen zu suchen macht aus diesem Erlebten eine Wertvolle Lebenserfahrung.
Günter Grass spricht von der Tatsache, dass wir in unser Welt „gut eingerichtet“ sind und meint, dass wir uns kaum Gedanken darüber machen, wie stark sind wir der Gewohnheit unterliegt. Die Abwesenheit eben jeder Nachdenklichkeit führt dazu, das Leben als routiniert, ja langweilig empfunden wird und die Langweile macht nicht die Welt als wenig interessant erscheinen, sondern können aus ihr viele Verrücktheiten begangen werden, wie Albert Camus mal postulierte.
Als Lebensform ist die Philosophie nicht anderes als eine philosophische Nachdenklichkeit, die einem Menschen in seinem Tun und Lassen wie in seinem Beobachten und Beurteilen anderen Mitmenschen und des Lebens im Allgemeinen begleitet und somit stets seine Lebenserfahrung bereichert dadurch, dass er alles hinterfragt und weder seine eigenen noch fremden Meinungen leichtfertig für selbständig hält. Gerade in unserem sogenannten Informationszeitalter scheint der Mensch immer weniger Zeit zu haben, sich mit einer philosophischen Nachdenklichkeit zu beschäftigen. Die Verbreiterung der Medien wie z. B. Rechner, Internet, Telefon, Kino und Fernsehen sind zwar wichtige Erfindungen und von großem praktischen Nutzen, verbergen aber in unserer Zeit sogleich eine echte Gefahr, indem sie einerseits viel Zeit der Menschen beanspruchen und anderseits deren Meinungen und Verhalten massiv beeinflussen. Und zwangsläufig sind mehr Menschen, v.a. die jungen davon wie ferngesteuert, ohne eigene reflektierte Meinung und im schlimmsten Fall leben wie Marionetten von Politik-, Handel- und Wirtschaftsmächten, die den „Konsumstoff“ dieser Medien produzieren.

02.09.2011

Zusammenhang zwischen „Staunen“, „Fragen“ und „Philosophieren“

Zuerst durch eine intensive oder plötzliche Sinneswahrnehmung, etwa durch Beobachtung eines außergewöhnlichen Naturphänomens oder durch Zuhören eines virtuosen Musikers kann man „ergriffen“, „sprachlos“ sein; erstaunt darüber, wie neuartig, schön oder kurios, was man gerade wahrnimmt. Dieses Staunen kann kurz oder lange dauern, bis man zu sich wiederkehrt, also beginnt von der Sinneswahrnehmungsebene zu einer Verstandsebene, wo man die Sprachlosigkeit überwindet und versucht sich zu fragen, was wohl das Erstaunte sein kann. Man fragt sich etwa, was das bedeutet eigentlich „schön“ zu sein oder was es ausmacht, das etwas so bezeichnet wird. So gesehen ist das Fragen der zweite Moment, der nach dem Erwachen aus dem Staunen eintritt. Eine Ursache-Wirkung dazwischen ist nicht unbedingt immer der Fall. Das kann auch wohl beim Staunen bleiben und es kommt schon mal gar nicht zum Fragen, bis man wieder von dem Alltäglichen zurückgeholt wird. Wenn es aber mal vorkommt, das man doch zum Fragen nach dem im ersten Moment Erlebten vorschreitet, also gerade das thematisiert, womöglich problematisiert, was uns überhaupt zum Stauen bringt, dann erlebt man einen zweiten Moment, nämlich einen Moment des Fragens. Und zwangsläufig ist ja durch Fragen nichts geklärt, sondern lediglich mal das Erlebte in Worte gefasst und somit durch den Verstand diesmal fokussiert. Verfolgt man diesen Prozess weiter und versucht doch mögliche Antworten oder Erklärungen für diese Fragen zu finden, dann begebt man sich in eine dritte Ebene des Nachdenkens, wo Fragen zu Antworten werden und die letzten wiederum zu Fragen. Und der begonnene Prozess gewinnt damit gerade an Dynamik und ein Versuch dessen Abschluss durch Beantwortung der anwachsenden Zahl der Fragen scheint immer unwahrscheinlich und somit auch offen und sehr ergiebig. Man erlebt somit einen dritten Moment, nämlich des Philosophierens. Auch dieser dritte Schritt (Philosophieren) ist keine notwendige Konsequenz des zweiten (Fragens). Die Art und weise, wie man aber Antworten sucht, hängt stark davon ab, wie die Fragen zuerst formuliert worden sind und wie gut sie die Thematik möglichst präzis widerspiegeln; kurzum die Fragen selbst sollen ihrer Art nach philosophisch sein. Die angehäuften Fragen können den Frager so entmutigen, dass er sich zurück streckt vor dem Versuch, mögliche vernünftige Erklärungen herbei zu philosophieren. Philosophierend nach Erklärungen zu suchen erfordert Mut, Geschick und viel Geduld.

Kurzgeschichte ... Weg der Freundschaft

Goha, der Blinde

oder Weg der Freundschaft

 

Die Lieblingserzählungen von Goha drehten sich meistens um Behinderten. Er hat seinen Freunden einmal die Geschichte eines gehbehinderten jungen Menschen erzählt, der jeden Tag zu seiner Arbeit die Bahnschiene mit seinem Rollstuhl bei der Wache überqueren musste. Einmal blieb er in den Schienen hängen und versuchte verzweifelt seinen Rollstuhl zu bewegen. Plötzlich vernahm er den Zug kommen und begann den Bahnwacher zur Hilfe hysterisch zu rufen. Als der schnelle Zug zu nahe rasend hereilte und nichts mehr zu retten schien, meldete sich der hinkende Wacher ahnungslos und gemein: „Was willst du von mir, du blödes Geschöpf?“. Die Antwort des Jungen kam prompt wie tragisch: „Hör dir diesen Stoß, du Hurensohn!“.
Der sechsundzwanzigjährige Ibrahim lebte in Marrakesch. Seine Freunde gaben ihm Goha als Spitznamen, nach einer mythologischen Figur, die für ihre Weisheit, Klugheit und ihren Sinn für Humor bekannt war. Sein Äußeres erinnerte an Sokrates. Er war mittelgroß, besaß starke Muskel, einen enormen Kopf, lange Haare, eine breite Stirn, grüne Augen, eine dicke Nase und einen großen Mund. Er ging nie ohne Anzug und Krawatte aus dem Haus und trug stets eine schwarze Brille. In seiner Kindheit hatte er eine Augenkrankheit gehabt, durch die er erblindet war. Er verließ die Schule, als er gerade acht wurde. Trotzdem konnte er eine Menge lernen, denn seine ältere Schwester, die ihn sehr liebte, las ihm ganze Bücher vor. Später ließ er auch seinen besten Freund Sami Romane und Geschichten vorlesen, besonders die, die detaillierte Beschreibungen erotischer Szenen beinhalteten. Er hatte meistens ein Taschenradio bei sich, um Nachrichten, Musik und seine Lieblingshörspiele zu verfolgen.
Jeden Abend traf er sich mit seinen Freunden in der Cafeteria Tarik-Assadaka (Weg der Freundschaft), wo sie stets den gleichen Tisch am ersten Stock neben dem hinteren Fenster reservierten. Von hier konnten sie die Hauptstraße und den öffentlichen großen Palmengarten und die vorbeilaufenden schönen Frauen beobachten. Das Lokal wimmelte von ein- und ausgehenden Besuchern. Es duftete andauernd nach Weihrauch und im Hintergrund hörte man immer eine leise orientalische Musik. Rauchen dürfte man hier nur, wenn man einen Tisch draußen nahm. Es wurde kalte und warme Getränke serviert, jedoch kein Alkohol. Man konnte auch marokkanische Kuchen zum Kaffee genießen.
Sobald sie ihre Plätze drückten, wollten sie von Goha etwas hören. Der eine bat ihn, über Frauen zu sprechen. Der andere verlangte von ihm, Witze zu erzählen. Ein Dritter wünschte sich einen ironischen Kommentar über die Korruption bei der Kommunalwahl. Goha war der Spielmacher und wenn er sich zu Wort meldete, waren plötzlich alle anderen ganz Ohr.

Jede seiner Erzählungen mündete in einen Höhepunkt, der seine Freunde zum Lachen brachte. Er spottete über alles, auch über seine Schwierigkeiten mit der Blindheit. Er erzählte ihnen zum Beispiel, wie er bewusst seine Hand auf die Brust der Freundin seiner Schwester gelegt hatte und ihr sagte: „Verzeihung, ich habe dich nicht gesehen!“. Oder wie er, während einer Einladung zum Abendessen bei der Tante, seinen vollen Teller auf den Boden fallen ließ. Die Unfallursache war für alle offensichtlich seine Blindheit. Doch ihm schmeckte einfach das Essen nicht und er wollte es loshaben, ohne den Stolz der gastfreundlichen Tante zu verletzen, die schon den ganzen Nachmittag in der Küche verbracht hatte.

Andere Erzählungen von ihm zeigten die Schwierigkeiten von manchen Behinderten mit ihren sexuellen Leben. Ein Mann, der wieder Beine noch Armen haben sollte, ging einst zum Bordell in Begleitung eines Helfers, erzählte Goha. Der Begleiter sollte dem Behinderten beim langsamen und regelmäßigen Bewegen im Akt helfen. Als der Mann kurz vor Ende war, genügte ihm nicht mehr die gleichmäßige und langsame Bewegung und schrie seinen Begleiter fluchend an: „Trete mich mit beiden Füßen, du fauler Hund!“ 
Außergewöhnlich kam Goha ein Abend nicht zur Cafeteria und seine Freunde, die seine amüsanten Beiträge vermissten, eröffneten eine Diskussion über ihn und sein Schicksal als Blinden. Alle waren sich schnell einig, dass Goha ein kluger und vor allem ein glücklicher Mensch war. „Er hört doch nie auf zu plaudern und sich über alles und alle lustig zu machen“, stellte einer fest. „Und obendrein ist er immer gepflegter und eleganter angezogen als die meisten in unserem ziemlich armen Quartier“, ergänzte ein Zweiter. Lediglich Sami war völlig anderer Meinung. Er vertrat die Ansicht, dass Goha der unglücklichste von allen war. Sami erklärte energisch: „Goha ist zwar sehr intelligent und gebildet und versteht vom Leben vielleicht mehr als jeder von uns, aber gerade hier auch liegt sein Unglück. Denn für die anderen ist Goha nur ein Witzerzähler, eine Stimmungskanone. Er erzählt fast nie freiwillig, sondern meinst nach aufdringlichen Aufforderungen von anderen, und wenn er nichts sagt, wenden sich alle von ihm ab und beschäftigen sich miteinander und mit ihrem Kartenspiel. Und keiner richtet mehr ein Wort an ihn, als wäre er ein Stuhl. Nur wenn er ihre Wünsche eingeht, wenden sie sich ihm kurz zu. Daher muss Goha sich ungerecht behandelt fühlen, weil er der Einzige ist, der zuerst etwas leisten muss, um Aufmerksamkeit zu genießen. Er wünscht sich auch mal einfach da zu sein, ruhig zu sitzen, mitzuhören und mit zulachen, und trotzdem das Gefühl zu haben, mitten im Spiel oder mindestens das Gefühl zu haben, berücksichtigt zu sein. Und gerade das ist ihm nicht möglich. Entweder muss er eine Geschichte herbeizaubern oder sich einsam fühlen und zwar mitten zwischen Freunden.“
Und Hamid, der zugenannte‚ Der alte Hase’ fügte hinzu: „Ich glaube du hast Recht, wer weiß schon, ob all die Geschichten, die ihm widerfahren sein sollen, überhaupt stimmen. Ich glaube, dass Goha in einem dauerhaften und stillen Kampf ist, indem er versucht, durch seine Klugheit und Bildung und durch sein übertrieben gepflegtes Aussehen das Interesse anderer zu wecken und wahrgenommen zu sein.“
„Diese Diskussion scheint mir zu philosophisch und sogar realitätsfern. Wenn das stimmen sollte, wieso hat sich Goha nie beklagt?“, sprach Rachid skeptisch wider.
„Stolz mein Freund, Goha ist zu stolz, um sich zu beklagen.“, antwortete Der Alte Hase.
"Und noch etwas", führte Sami seine Verteidigungsrede weiter: „Auch zuhause, hören seine Geschwister nicht auf, ihn ununterbrochen daran zu erinnern, mal unabsichtlich, mal durch ihr rücksichtloses Verhalten, dass er blind ist, also anders als sie ist. Freunde, um es auf den Punkt zu bringen“, sagte Sami bekümmert weiter, „Goha fühlt sich ständig diskriminiert, wenngleich diese Tatsache keinem auffällt. Das ist die leiseste und deshalb auch die schlimmste Diskriminierung, die einen Menschen treffen kann, da er sie allein spürt und dabei nicht einmal das Mitgefühl der anderen hat, die ja keine blasse Ahnung davon haben und schon gar nicht, und das ist noch tragischer, die intimsten Freunde.“
„Das stimmt vollkommen, gestern hat doch Goha kaum einen Ton von sich gegeben und heute kam nicht zu uns.“, merkte Der alte Hase laut und fast wütend. Dann stellte Sami wieder fest: „Und niemand von uns hat ihn gestern gefragt, was mit ihm los war.“
Nach diesen Beiträgen fiel allen auf, wie Goha in sich versank, sobald er etwas erzählt hatte, oder wie die anderen nach einer witzigen Erzählung in verrücktes Lachen ausbrachen, während er nicht einmal lächelte und bereits nachdenklich auf Distanz ging und den Eindruck erweckte, als hätte er das ganze Gewicht der Erde auf seinen Schultern. Und so häuften sich nach und nach die Zeichen auf, die für Gohas Unglück sprachen. Es fiel ihnen wie Schuppen von den Augen und sie sahen ein, dass sie für Goha eher einen Grund mehr für sein Unglück darstellen, anstatt sein Leben ein Stückchen leichter zu machen.
Sie nahmen sich vor, ab dem nächsten Treffen, allmählich und unauffällig ihr unanständiges Benehmen gegenüber Goha grundsätzlich zu verbessern.
Am folgenden Morgen vernahmen sie, dass Goha sich an jenem Abend in seinem Zimmer eingeschlossen hatte, eine Unmenge Schlaftabletten schluckte und starb.
Als sie sich nach seiner Bestattung in Cafeteria zusammentrafen, wiesen sie sich gegenseitig die Schuld heftig zu. Der Streit endete mit verletzenden Beschimpfungen, die ihre jahrelange Freundschaft unwiderruflich beschädigt hat. Von dem täglichen amüsanten Treffen war damit endgültig Abschied genommen.