Der sechsundzwanzigjährige Ibrahim lebte in Marrakesch. Seine Freunde gaben ihm Goha als Spitznamen, nach einer mythologischen Figur, die für ihre Weisheit, Klugheit und ihren Sinn für Humor bekannt war. Sein Äußeres erinnerte an Sokrates. Er war mittelgroß, besaß starke Muskel, einen enormen Kopf, lange Haare, eine breite Stirn, grüne Augen, eine dicke Nase und einen großen Mund. Er ging nie ohne Anzug und Krawatte aus dem Haus und trug stets eine schwarze Brille. In seiner Kindheit hatte er eine Augenkrankheit gehabt, durch die er erblindet war. Er verließ die Schule, als er gerade acht wurde. Trotzdem konnte er eine Menge lernen, denn seine ältere Schwester, die ihn sehr liebte, las ihm ganze Bücher vor. Später ließ er auch seinen besten Freund Sami Romane und Geschichten vorlesen, besonders die, die detaillierte Beschreibungen erotischer Szenen beinhalteten. Er hatte meistens ein Taschenradio bei sich, um Nachrichten, Musik und seine Lieblingshörspiele zu verfolgen.
Jeden Abend traf er sich mit seinen Freunden in der Cafeteria Tarik-Assadaka (Weg der Freundschaft), wo sie stets den gleichen Tisch am ersten Stock neben dem hinteren Fenster reservierten. Von hier konnten sie die Hauptstraße und den öffentlichen großen Palmengarten und die vorbeilaufenden schönen Frauen beobachten. Das Lokal wimmelte von ein- und ausgehenden Besuchern. Es duftete andauernd nach Weihrauch und im Hintergrund hörte man immer eine leise orientalische Musik. Rauchen dürfte man hier nur, wenn man einen Tisch draußen nahm. Es wurde kalte und warme Getränke serviert, jedoch kein Alkohol. Man konnte auch marokkanische Kuchen zum Kaffee genießen.
Sobald sie ihre Plätze drückten, wollten sie von Goha etwas hören. Der eine bat ihn, über Frauen zu sprechen. Der andere verlangte von ihm, Witze zu erzählen. Ein Dritter wünschte sich einen ironischen Kommentar über die Korruption bei der Kommunalwahl. Goha war der Spielmacher und wenn er sich zu Wort meldete, waren plötzlich alle anderen ganz Ohr.
Jede seiner Erzählungen mündete in einen Höhepunkt, der seine Freunde zum Lachen brachte. Er spottete über alles, auch über seine Schwierigkeiten mit der Blindheit. Er erzählte ihnen zum Beispiel, wie er bewusst seine Hand auf die Brust der Freundin seiner Schwester gelegt hatte und ihr sagte: „Verzeihung, ich habe dich nicht gesehen!“. Oder wie er, während einer Einladung zum Abendessen bei der Tante, seinen vollen Teller auf den Boden fallen ließ. Die Unfallursache war für alle offensichtlich seine Blindheit. Doch ihm schmeckte einfach das Essen nicht und er wollte es loshaben, ohne den Stolz der gastfreundlichen Tante zu verletzen, die schon den ganzen Nachmittag in der Küche verbracht hatte.
Andere Erzählungen von ihm zeigten die Schwierigkeiten von manchen Behinderten mit ihren sexuellen Leben. Ein Mann, der wieder Beine noch Armen haben sollte, ging einst zum Bordell in Begleitung eines Helfers, erzählte Goha. Der Begleiter sollte dem Behinderten beim langsamen und regelmäßigen Bewegen im Akt helfen. Als der Mann kurz vor Ende war, genügte ihm nicht mehr die gleichmäßige und langsame Bewegung und schrie seinen Begleiter fluchend an: „Trete mich mit beiden Füßen, du fauler Hund!“
Außergewöhnlich kam Goha ein Abend nicht zur Cafeteria und seine Freunde, die seine amüsanten Beiträge vermissten, eröffneten eine Diskussion über ihn und sein Schicksal als Blinden. Alle waren sich schnell einig, dass Goha ein kluger und vor allem ein glücklicher Mensch war. „Er hört doch nie auf zu plaudern und sich über alles und alle lustig zu machen“, stellte einer fest. „Und obendrein ist er immer gepflegter und eleganter angezogen als die meisten in unserem ziemlich armen Quartier“, ergänzte ein Zweiter. Lediglich Sami war völlig anderer Meinung. Er vertrat die Ansicht, dass Goha der unglücklichste von allen war. Sami erklärte energisch: „Goha ist zwar sehr intelligent und gebildet und versteht vom Leben vielleicht mehr als jeder von uns, aber gerade hier auch liegt sein Unglück. Denn für die anderen ist Goha nur ein Witzerzähler, eine Stimmungskanone. Er erzählt fast nie freiwillig, sondern meinst nach aufdringlichen Aufforderungen von anderen, und wenn er nichts sagt, wenden sich alle von ihm ab und beschäftigen sich miteinander und mit ihrem Kartenspiel. Und keiner richtet mehr ein Wort an ihn, als wäre er ein Stuhl. Nur wenn er ihre Wünsche eingeht, wenden sie sich ihm kurz zu. Daher muss Goha sich ungerecht behandelt fühlen, weil er der Einzige ist, der zuerst etwas leisten muss, um Aufmerksamkeit zu genießen. Er wünscht sich auch mal einfach da zu sein, ruhig zu sitzen, mitzuhören und mit zulachen, und trotzdem das Gefühl zu haben, mitten im Spiel oder mindestens das Gefühl zu haben, berücksichtigt zu sein. Und gerade das ist ihm nicht möglich. Entweder muss er eine Geschichte herbeizaubern oder sich einsam fühlen und zwar mitten zwischen Freunden.“
Und Hamid, der zugenannte‚ Der alte Hase’ fügte hinzu: „Ich glaube du hast Recht, wer weiß schon, ob all die Geschichten, die ihm widerfahren sein sollen, überhaupt stimmen. Ich glaube, dass Goha in einem dauerhaften und stillen Kampf ist, indem er versucht, durch seine Klugheit und Bildung und durch sein übertrieben gepflegtes Aussehen das Interesse anderer zu wecken und wahrgenommen zu sein.“
„Diese Diskussion scheint mir zu philosophisch und sogar realitätsfern. Wenn das stimmen sollte, wieso hat sich Goha nie beklagt?“, sprach Rachid skeptisch wider.
„Stolz mein Freund, Goha ist zu stolz, um sich zu beklagen.“, antwortete Der Alte Hase.
"Und noch etwas", führte Sami seine Verteidigungsrede weiter: „Auch zuhause, hören seine Geschwister nicht auf, ihn ununterbrochen daran zu erinnern, mal unabsichtlich, mal durch ihr rücksichtloses Verhalten, dass er blind ist, also anders als sie ist. Freunde, um es auf den Punkt zu bringen“, sagte Sami bekümmert weiter, „Goha fühlt sich ständig diskriminiert, wenngleich diese Tatsache keinem auffällt. Das ist die leiseste und deshalb auch die schlimmste Diskriminierung, die einen Menschen treffen kann, da er sie allein spürt und dabei nicht einmal das Mitgefühl der anderen hat, die ja keine blasse Ahnung davon haben und schon gar nicht, und das ist noch tragischer, die intimsten Freunde.“
„Das stimmt vollkommen, gestern hat doch Goha kaum einen Ton von sich gegeben und heute kam nicht zu uns.“, merkte Der alte Hase laut und fast wütend. Dann stellte Sami wieder fest: „Und niemand von uns hat ihn gestern gefragt, was mit ihm los war.“
Nach diesen Beiträgen fiel allen auf, wie Goha in sich versank, sobald er etwas erzählt hatte, oder wie die anderen nach einer witzigen Erzählung in verrücktes Lachen ausbrachen, während er nicht einmal lächelte und bereits nachdenklich auf Distanz ging und den Eindruck erweckte, als hätte er das ganze Gewicht der Erde auf seinen Schultern. Und so häuften sich nach und nach die Zeichen auf, die für Gohas Unglück sprachen. Es fiel ihnen wie Schuppen von den Augen und sie sahen ein, dass sie für Goha eher einen Grund mehr für sein Unglück darstellen, anstatt sein Leben ein Stückchen leichter zu machen.
Sie nahmen sich vor, ab dem nächsten Treffen, allmählich und unauffällig ihr unanständiges Benehmen gegenüber Goha grundsätzlich zu verbessern.
Am folgenden Morgen vernahmen sie, dass Goha sich an jenem Abend in seinem Zimmer eingeschlossen hatte, eine Unmenge Schlaftabletten schluckte und starb.
Als sie sich nach seiner Bestattung in Cafeteria zusammentrafen, wiesen sie sich gegenseitig die Schuld heftig zu. Der Streit endete mit verletzenden Beschimpfungen, die ihre jahrelange Freundschaft unwiderruflich beschädigt hat. Von dem täglichen amüsanten Treffen war damit endgültig Abschied genommen.