01.10.2014

Welche Bedeutung kommt dem Experiment in der neuzeitlichen Wissenschaft zu und wie verändert sich dadurch das Naturverständnis?

Bis im Spätmittelalter herrschte noch das Naturverständnis im Sinne von Aristoteles, nämlich die Fokussierung des Wesens als Hauptziel der Naturphilosophie, die unter dem Paradigma „Teleologie“ die Wirklichkeit zu verstehen versuchte. Dieses Verständnis war noch im Einklang mit der alten geo- und anthropozentrischen Kosmos-Konzeption, wobei die Erde und damit der Mensch im Zentrum waren. Alle Naturdinge in ihrer spezifischen Bewegung und Veränderung streben aus in sich getragenen Gründen dahin, ihre „naturgemäßen Orte bzw. Ziele“ zu erreichen, z.B. die Pflanzen und Tieren wachsen nach ihren keimhaften „Entfaltungsmöglichleiten“, die Sterne und Planeten kreisen von selbst nach ihren „vorgeschriebenen Bahnen“, die schweren Körper fallen nach ihren „natürlichen Orten“ und so fort, wobei das Wort „nach“ hier in einem doppelten Sinne zu verstehen ist und zwar erstens im Sinne der „Richtung“ d.h. „zu, hin“ und zweitens im Sinne der „eigenen Natur“, d.h. „ihrer naturgemäß, -getreu“. Dieses Naturverständnis erfüllte zugleich eine Orientierungsfunktion für die (damaligen) Menschen, denn eine Wirklichkeit, die nach Platon eine „Ordnungsvernünftigkeit“ verkörpert und nach Aristoteles stets nach „vordefinierten Zielen“ hinstrebt (Zielgerichtetheit) und das noch in einem geo- und anthropozentrischen Kosmos kann nur sinnstiftend sein.

Als die Neuzeit sich ankündigte und Francis Bacon das empirische Naturverständnis als „unmethodisch“ kritisierte, begann die Naturphilosophie eine vollkommen neue Epoche. Bacon stellte zuerst fest, dass die Naturforschung seiner Zeit praktisch dem Zufall überlassen ist, indem sie nur Erfahrungs- und Beobachtungsergebnisse anhäufte, ohne ein klares Forschungsziel zu definieren und durch Experiment zu überprüfen. Das Wissenschaftsprojekt soll nach ihm das konkrete Leben des Menschen verbessern und dies kann nur erreicht werden, wenn bestimmte Lebensbereiche durch gezielt definierte Experimente geforscht werden. Mit der Verbindung von gezielt gebautem Experiment und mathematischer Formulierung der Ergebnisse brachte Galilei den klaren Aspekt der neuzeitlichen Naturwissenschaft auf den Punkt. Indem er die Gravitationsbeschleunigung einer Kugel durch eine gekippte Ebene reduzierte, ermöglichte er eine genaue Beobachtung und Messung, um dann eine mathematische Beziehung zwischen Weg- und Zeitintervallen aufzustellen und somit deren Gesetzmäßigkeit herauszustellen und apodiktisch zu beweisen. Galilei half mit seiner Vorgehensweise der Menschheit endgültig, ein bis dahin beispielloses wissenschaftliches Naturforschungsabenteuer zu gründen. Die Schlüsselrolle in der Etablierung neuzeitlicher Naturwissenschaft spielte zuerst der Experimentbegriff, indem er den „Teufelskreis“ der alten „wissenschaftlichen“ Spekulationen durchbrach und den Weg von nun an für eine rasante Beschleunigung der „Wissenschaftlichung“ ebnete, die dann in einer geschichtlich relativ sehr kurzen Zeit die Welt radikal veränderte, da der Wissenserwerb v.a. durch  Experiment technisch (in nützliche Artefakte) umsetzbar wurde. Zusammengefasst kann die Neuzeit durch seinen neuen Naturbegriff charakterisiert werden, der wiederum als neue Naturwissenschaft definiert werden kann und diese als eine Naturgrundlagen-forschung verstanden werden kann, die die „Quantitäten“ eines Naturbereiches im Experiment messen und womöglich deren Gesetzmäßigkeiten mathematisch auffassen kann. Mit anderen Worten: Die Natur muss im Experiment modellhaft zerlegt, reduziert, isoliert, quantifiziert, beherrscht und überprüft werden und möglichst mit Mathematik als Gesetze formuliert werden. Dieses Verständnis der Natur ist offensichtlich relational, denn nur noch regelhafte Zusammenhänge (Naturgesetze) zwischen messbaren Quantitäten zählen, die aristotelische teleologische Frage nach dem Wesen bzw. den wesentlichen Eigenschaften der Naturdinge ist somit gebannt mit aller Sinnstiftung und Lebensorientierung für Menschen, die damit mal verbunden waren.     

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