Bei Dilthey hat die Hermeneutik insbesondere die
Aufgabe den Menschen zur Selbstbesinnung zu verhelfen. Uns als einzelne
Menschen und im Kontext der Kultur zu verstehen ist daher die Grundfrage. Da
wir uns selbst nicht als äußerlichen Gegenstand isolieren und erforschen können
wie die Naturwissenschaft mit deren Objekten vorgeht, bleibt uns nicht übrig
als ganzheitlich anzusetzten und den Menschen im Verhältnis zu sich selbst, zu
den anderen und zu seinem kulturellen Kontext zu beachten. Diese
Ganzheitlichkeit muss stets das Denken genauso wie die Gefühle und das Wollen
eines Menschen zugleich im Augenfeld behalten. Diese drei Dimensionen können
uns aber nur als Erlebnisse vorkommen, zu denen wir widerum keinen direkten
Zugang haben. Daher die Notwendigkeit die Kulturwerke sowie alle
Ausdrucksformen und Lebensäußerungen (Geistesobjektivationen) in Betracht zu
ziehen, wenn es darum handelt uns zu verstehen. Dieses Verhältnis zwischen
Erlebnis, Ausdruck und Verstehen stellt den Kern der Dilthey'schen Hermeneutik
dar. Er hält eine Erkenntnistheorie des eigenen “Ich” oder des kulturellen
“Wir” für notwendig. Da wir uns einer gemeinsamen Ausdruckswelt aus Worten,
Bildern, Symbolen, Zeichen usw. bedienen, um über uns überhaupt sprechen zu
können ist die prinzipielle Möglichkeit dann gegeben, dass andere uns und wir
andere verstehen vermögen. So gesehen ist die Hermeneutik nach Dilthey nichts
anders als Audrucksverstehen. Aber eben ist das Verständnis nur prinziell
möglich und keinesfalls notwendig, denn die Mißvertändnisse zwischen Menschen
bleiben möglich genauso wie der Mensch sogar sich selbst mißversehen kann.
Die Bedeutung der Biografie und vor allem der
Autobiografie für das Verständnis einer Persönlichkeit ist ein gutes Beispiel
wie Dilthey in seiner Hermeneutik einen Menschen, sein Leben und seine Werke
als eine Ganzheit versteht. Gerade in diesem Punkt kommt der berühmte
hermeneutische Zirkel erneut zum Tragen, denn ein Biograf muss immer schon sich
oder den anderen, über den er schreibt versatanden haben. Denn manche
Theoretiker und Kritiker der Autobiografie denken, dass so ein Unternehmen
stets Randbdingungen unterligt ist. Die Sprache als System mit all seinen
Gesetzen und Beschränkungen ist die erste Grenze, die dem Auto- und -Biograf
vieles vorgibt und sogar diktiert. Ein Autobiograf kann über sich und sein
Leben erst schreiben, wenn er zuerst einen Lauf und ein Bild über dieses Leben
in seiner Vorstellung entwirft, was aber nicht unbedingt der Wirklichkeit
gänzlich widerspiegelt. Hier kommen zahlreiche Einflußfaktoren ins Spiel, etwa
das zeitversetzte Nachleben von Ereignissen, das unbewußte Verdrängen von
manchen Details oder sogar das Unterstreichen und womöglich Übertreiben von
anderen Erlebnissen sekundären Bedeutung, kurz einen Lebenslauf zu skizzieren,
der eher im geheimen Wunsch sein sollte nicht aber wie er in der Tat war. Es
geht in dieser Kritik nicht um eine Unterstellung, dass ein Biograf wohlwollend
“verfälscht”, auch wenn das nicht ganz auszuschliessen ist, sondern darum, dass
sich z.B. sprachliche, psychische und geitsentwicklungs- und gedächtnisbedingte Beschränkungen kaum
vermeiden lassen. Hier stellt sich die Frage: angesicht der Offenheit von
Texten (siehe vorheriges Thema 2), ist es nicht berechtigt nachzufragen, dass das Leben
eines Menschen und daher seine Biografie genauso für Interpretationen und
Schöpfung neuer Bedeutungen offen bleibt. Soll nicht ein Bigraf das Leben eines
anderen unter neuen Voraussetzungen besser versetehen als der Mensch selbst,
über den er schreibt?
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