03.10.2012

(5) “Lebenswelt” bei Husserl vs. “Hermeneutik der Faktizität“ bei Heidegger


Es geht hier einerseits um die Frage: "Welche Bedeutung hat der Begriff “Lebenswelt” bei Husserl?" und anderseits den Vergleich dieses Begriffs mit Heideggers “Hermeneutik der Faktizität“.
Die Teilfrage “welche Bedeutung” kann in diesem Kontext zweierlei verstanden werden, und zwar “was bedeutet” oder “was ist gemeint” einerseits und “welcher Stellenwert” oder “welche Rolle spielt” anderseits. Wir gehen davon aus, dass die Fragestellung beides abzielt.
Stets davon ausgehen, die Existenz der Sachen samt all Voreinstellungen und Vorurteile einzuklammern und sich einzig ihrem Gegebensein im Bewusstsein zu wenden, wirft später bei Husserl selbst die Frage auf: Kann diese Grundhaltung auch dem Verständnis des Lebens innerhalb der natürlichen Einstellung gerecht werden? Nun muss er die Frage klären, wie die Vorurteilstruktur unser Denken und Handeln bestimmen, wenn es nicht nur um die Frage nach einem individuellen Bewusstsein geht, sondern und insbesondere, wenn nach dem Leben in einer Kultur, in einer Gesellschaft, kurz in einer Mitmenscheitswelt gefragt ist. Um diese Herausforderung anzunähren, entwirft Husserl den Begriff “Lebenswelt”, womit “das Universalfeld aller wirklichen und möglichen Praxis”, aber auch “der universale, allen Menschen gemeinsame Horizont von wirklich seienden Dingen” erfasst werden können.
Aber auch bei seiner Lebensweltanalyse bleibt er seiner Methode der Reduktion treu, indem er die Vorurteilstruktur der Lebenswelt auch einklammert, um die Grundlagen des gemeinsamen Welthorizontes aufzuklären. Mit diesem Begriff der “Lebenswelt” will Husserl auch das Auseinanderklaffen der wissenschaftlichen Theorie und alltäglichen Lebenserfahrung beheben, zu dem vor allen der neuzeitliche Objektivitätsanspruch der Wissenschaftler geführt hat. Die Einführung dieses Begriffs sorgt auch dafür, dass die Hermeneutik als Deutung der kulturellen Sinnhorizonte und die Phänomenologie als deskriptiver Zugang zu der Lebenserfahrung  immer aufeinander angewiesen werden. Die Einführungsnotwendigkeit der “Lebenswelt” ist weiterhin der Ausdruck dafür, wie sich Husserl selbstkritisch von seinem Gedanken der Philosophiegrundlegung mittels einer reinen Subjektivität, einer schlichten Egologie abwendet, auch wenn er diese Wendung nicht zu all deren Konsequenzen führen kann. Sich selbst treu erkennt er die Schwierigkeiten solchen Unternehmens und gesteht sie ein mit der Ersehnung, dass seine Schüler dies weiter tun. Der Hang aber aus seiner Phänomenologie eine Letztbegründung der Philosophie im Vorbild der neuzeitlichen Versuche zu machen, veranlasst die Phänomenologen nach ihm andere selbstsändige Wege zu gehen.
Sein Schüler Martin Heidegger distanziert sich am stärksten von ihm, indem er die Phänomenologie ganz neu umorientiert. Er kritisiert den Hussel'schen Ansatz beim Bewusstseinsleben und die Suche nach einer Letztbegründung der Philosophie, dreht das Rad um und stellt das konkrete Leben im Mittelpunkt, das Husserl vor ihm einklammert. Statt das Bewusstsein zu analysieren, beschäftigt sich Heidegger mit der Analyse des Alltäglichen, des In-der-Welt-Seins und definiert dafür seinen Begriff “Faktizität” als Ausdruck dieser Tatsächlichkeit des konrekten Lebens. Da gerade unser Alltägliche durch viele Vorurteile und Mißverständnisse belastet ist, bedarf es eher der phänomenologischen Interpretation. Durch diesen Ansatz bei der Alltäglichkeit profiliert sich Heidegger's Philosophie originell gegen allen Philosophien, die von einem Idealtypus des Menschlichen ausgehen.
Um seinen Ansatz bei dem individuellen Bewusstsein zu erweitern und das Leben in einer Kultur, in einer Gesellschaft einzubeziehen, definiert Husserl seinen Begriff der “Lebenswelt”. Er bleibt aber bei seinem “epoché” und will auch hier alle Vorurteile und Voreinstellungen außer Spiel lassen, sie einklammern. Sein Schüler aber nimmt gerade das “Eingeklammerte”, das außer Siel “Gelassene” und setzt es im Zentrum seiner Betrachtungen, seiner hermenutischen Analyse und fasst diese Methodik unter “Hermeneutik der Faktizität” zusammen.
Mit seiner “Lebenswelt” wird Husserl zu Hermeneutiker, jedoch einer, der sich als gewißes Bewusstsein ansieht und diese “Lebenswelt” verstehen kann, wenn er nur vorurteilsfreie vorgeht. Mit seiner “Faktizität” setzt Heidegger aber bei der banalen Alltäglichkeit gerade mit all deren Vorurteilen und Mißverständnissen an und sieht das Verstehen selbst nicht als methologisches Problem wie Husserl es tut, sondern als ursprünglichen Existenzvollzug schlechthin des Menschen. Anders gesagt, im Verstehen, in der Analyse des Verstehens existiert nach Heidegger erst der Mensch, nicht vorher. Die Husserl's Einklammerung der Wirklichkeit - und die Wirklichkeit ist auch das Alltägliche, die Vorurteile, die Mißverständnisse, kurz die ganze Vor-Struktur des Verstehens – setzt zwangsläufig voraus, dass das Bewusstsein außerhalb dieser Wirklichkeit steht und nicht mitten drin. Daher spricht Heidegger von ontologischer Zierkelstruktur beim Verstehen.

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