Der Pragmatismus spricht
dem Wahrheitsbegriff eine Schlüsselrolle zu. Wenn die Wahrheit für Peirce nur
als Konsens im Rahmen der Wissenschaftsgemeinschaft gefunden werden kann, gilt
für James, diesen Wahrheitsbegriff über die Wissenschaft hinaus zu erweitern,
damit jedes Erlebnis eines jeden Menschen auch als Wahrheit gelten kann. James
leitet aus dem Bedingungsverhältnis von Wahrheit und Nützlichkeit als dem
Grundkriterium des pragmatischen Philosophierens ab, dass keine Wahrheit, auch
nicht eine persönliche vorweg zensiert sein darf. Wenn einzig und allein die
Nützlichkeit das Maßstab für Sinn oder Unsinn, also für Wahrheit eines
Unternehmens gilt, dann reicht beispielsweise ein gelungenes Leben als Beweis
aus, dass die Vorstellungen dahinter wahrhaft waren. James leiht von der
Ökonomie Begrifflichkeiten aus, um seine Philosophie zu verdeutlichen und
spricht z. B. vom Wahrheitskredit. Damit weist er auf die Vorinvestition eines
Menschen in Form von Vorstellungen, Pläne, die seinem Leben zuvorkommen, bevor
er konkret anhand Erfolg oder Misserfolg feststellen kann, ob seine
Lebensvorstellungen wahr waren oder nicht. Das Wahrheitskredit entspricht in
diesem Vergleich einem Geldskredit, das im Finanzmarkt zuerst nur auf Hinsicht
auf Erfolg investiert wird und erst später wird es sich zeigen, ob der Investor
mit seiner Hinsicht oder Vorstellung Recht hatte bzw. in Wahrheit war.
Noch abstrakter formuliert,
auf der Zeitschiene werden zuerst Urteile und Vorstellungen stattfinden (wie
ein Kredit auf Zeit), aber ihre Wirkungen im konkreten Leben werden dann erst
später auftreten (wie eine Rendite), die wiederum zeugen, ob wir anfangs mit
unseren Absichten in der Wahrheit waren oder nicht.
Aber so starr und simpel
sieht James das Verhältnis zwischen Gedanken und Tatsachen wiederum nicht, denn
Wahrheit für ihn ist eher ein dynamischer Prozess, bei dem wir immer wieder die
Übereinstimmung zwischen unseren Ideen und Wirklichkeit überprüfen. Daher
benutzt James die ökonomischen Metaphern wie „Kredit“, um erstens das
dynamische Zusammenspiel zwischen theoretischen Bemühungen und deren
tatsächlichen Folgen zu visualisieren und zweitens den Nutzen als alleinigen
„Wahrheitssprecher“ hervorzuheben.
Über die Wahrheit
entscheidet die praktische Angemessenheit der Vorstellungen an die
Lebensbedürfnisse. James versteht die Verifikation nicht nur im Sinne der
Korrespondenztheorie, sondern erweitert diesen Sinn und hält sie für den
dynamischen Prozess der Wahrheitsproduktion selbst. Jeder für sich kann nicht
alles verifizieren, obwohl die prinzipielle Möglichkeit hierzu gegeben ist,
aber er muss es auch gar nicht, denn nach James ist jede Wahrheit nur ein für
Wahrhalten ist, das auch indirekt verifizierbar ist. Solange wir keinen
triftigen Grund haben, brauchen wir das, was für wahr gilt und auf Erfahrungen
anderer Mitmenschen beruht nicht in Zweifel zu ziehen. Diese indirekte
Verifikation bringt einen weiteren Aspekt des Begriffs „Wahrheitskredit“ zum
Ausdruck. Diesbezüglich sagt James: „Wir lassen indirekte Verifikation ebenso
gelten wie direkte. […] Die Wahrheit lebt tatsächlich größtenteils vom Kredit.
Unsere Gedanken und Überzeugungen ‚gelten’, solange ihnen nichts widerspricht,
so wie die Banknoten so lange gelten, wie niemand ihre Annahme verweigert. Dies
alles weist aber auf augenscheinliche Verifikation hin, die irgendwo vorhanden
sind. Ohne diese muss unsere Wahrheitsfabrik ebenso zusammenbrechen wie ein
finanzielles Unternehmen, dass keine Kapitalgrundlage hat. Sie nehmen von mir
eine Verifikation an und ich eine andere von Ihnen. Wir verkehren untereinander
mit Wahrheiten. Aber die Grundpfeiler des ganzen Oberbaues sind doch immer
Überlegungen, die von irgendjemanden anschaulich verifiziert worden sind.“
[1]
Kommentar zu dieser Wahrheitstheorie von James:
James interpretiert den
Wahrheitsbegriff (im Sinne der Korrespondenztheorie) als Übereinstimmung
zwischen Denken und Sein, die er weiterhin als einen
„Vorgang-des-Geführt-Seins“ ansieht: „Übereinstimmung stellt sich demnach in
ihrem Wesen als ein Akt des Führens heraus. Dieses Führen ist ein nützliches
Führen, denn wir gelangen dorthin, wo Dinge sind, die für uns von Wichtigkeit
sind. Wahre Ideen führen uns sowohl zu nützlichen Worten und Begriffen als auch
unmittelbar zu sinnenfälligen Dingen.“ [2]
In der Jamesschen Theorie
ist die Wahrheit nichts statisches, sie ist kein Befund, kein Zustand der
Dinge, die einmal gefunden wird für ewig erhalten bleibt. Sie ist hingegen ein
Prozess der Bewahrheitung einer Beziehung zwischen Gedanken und Tatsachen; eine
Beziehung, die von einem Subjekt im Vorfeld als Hypothese entworfen und
anschließend an der Realität überprüft wird, wobei diese Verifikation keine
eindimensionale oder lineare ist, sodass man sagen könnte: Da sind die Gedanken
und hier sind die daraus entstandenen Realitäten, und stimmen die beiden
überein, dann tritt damit die Wahrheit zu Tage. Sondern handelt es sich hier um
eine mehrdimensionale Relation zwischen Subjekt und Objekt bzw. zwischen Denken
und Sein. Und die Mehrdimensionalität liegt in der Dynamik des Lebens selbst
begründet. Wenn James davon spricht, dass die Wahrheit tatsächlich größtenteils
vom Kredit lebt, dann meint er, dass eine Verifikation nur eine komplexe sein
kann, nämlich eine direkte und vor allem auch eine indirekte ist, indem wir auf
Erfahrungen anderer Menschen angewiesen sind, um etwas „für wahr zu halten“,
also um überhaupt von Wahrheit oder genauer Fürwahrhalten sprechen zu können.
Unser Vertrauen in fremden Erfahrungen findet einen ‚Trost’ (um nicht von einem
Grund zu sprechen) in dem Glauben, dass wir im Prinzip selbst in der Lage sind,
Überprüfungen jeder Zeit durchzuführen. Diese grundsätzliche Möglichkeit ist
zwar offensichtlich, aber in der Realität kaum umsetzbar und trotzdem baut sich
darauf - meiner Ansicht nach - die ganze Utopie einer Zusammenhaltenden,
funktionierenden menschlichen Gesellschaft. Keiner realisiert wirklich, wie
stark er von seinen Mitmenschen abhängig ist. Wir trinken Wasser im
Vollvertrauen, dass es sauber und gesund ist und trotzdem haben wir es nie
selber überprüft. Ähnliches gilt für unsere Lebensmittel, Medizin, Autos,
Häuser, Kleidung, also eben für alle unsere Lebensbedürfnisse. Sogar in dem
Lebensbereich, wo wir kompetent sind, führen wir für die Gesellschaft nur einen
Teil der Überprüfungen aus, den Rest übernehmen andere. Die Komplexität des
Lebens, insbesondere heute führt dazu, dass das Auf-einander-angewiesen-sein (1)
jede Lebensecke beherrscht, auch in unserem Spezialbereich, wo wir stolz sind,
mitmachen zu dürfen, sind wir direkt oder indirekt von anderen und auch von
deren unzähligen von uns selbst nie geprüften Erzeugnissen und Arbeitsmitteln
abhängig.
Dieses
Auf-einander-angewiesen-sein (genommen im Sinne von James) drückt die Tatsache
aus, dass die Wahrheit nicht nur eine Angelegenheit eines Individuums ist,
sondern eher eine für die Gesellschaft, wobei die letzte im allgemeinen Sinne
verstanden wird im Gegenteil zu Peirce, der sie auf die wissenschaftliche
Gemeinschaft beschränkt. Wenn Peirce sich in erster Line für das
Forschungslabor interessiert, sieht James im ganzen Leben sozusagen ein
riesiges Labor, wo sich ständig Wahrheiten (oder das, was für solches gehalten
ist) auf Prüfstand sind, so dass alte Annahmen vernichtet und neue angenommen
werden und das einzige, was in diesem ewigen wiederholten Unterfangen zählt ist
das, was für die Menschen vom Nutzen ist. Und wenn wir von Nützlichkeit als
Bewertungskriterium der menschlichen Tätigkeiten sprechen, heißt das für mich,
dass jede Schädlichkeit ausgeschlossen bleiben muss, was im Umkehrschluss
bedeutet, jedes Tun zu unterlassen, das dem Menschen, also auch seiner Umwelt
Schaden einrichten kann. Ich denke nicht, dass James den Begriff „Nutzen“ im
Sinne des bekannten Spruchs „der Zweck heiligt die Mittel“ versteht. Spricht
man diesem Begriff die Schlüsselrolle, um etwas für wahr gelten zu lassen, dann
heißt das logischerweise, seinem Gegenteil, nämlich „Schaden“ einen
Platzverweis zu erteilen. Kurzum, der Nutzen im absoluten Sinne schließt sein
Gegenteil aus, denn sonst wird ein Nutzen gar keine im engsten Sinne. Es
versteht sich, dass ein absoluter oder reiner Nutzen nicht realistisch ist,
genauso wie es keine gänzlich schadenfreie Tätigkeit gibt. Es handelt sich hier
vielmehr darum, die Grenzen zu malen innerhalb deren, der Mensch ansatzweise
sein Tun und Lassen veranlasst und während er zwar stets seinen Nutzen vor Auge
hat, bleibt er aber wohl bewusst, dass es wirklich um einen solchen geht und
dass kein Schaden um die nächste Ecke lauert.
Worauf weist uns das Wort
„Kredit“ auf?
Ein junges Paar finanziert
eine Wohnung durch einen Bankkredit. Also die zwei jungen Menschen genießen zwar
„ihre“ Wohnung, die ihnen im Grunde genommen aber gar nicht gehört und die sie
selbst auch nicht gebaut haben. Also ein Kredit dient dazu, etwas anzunehmen,
zu haben, zu „genießen“ …usw., ohne es eigentlich vorerst wirklich zu besitzen.
Bezahlt das Paar den Kredit ab, erst dann kann man von der Wahrheit sprechen,
dass die beiden in der Tat die Wohnung besitzen. Der Umgang mit Wahrheiten ist
diesem Beispiel ähnlich, denn wir tauschen sie, nehmen sie nur an, denn für
ihre Prüfung verlassen wir uns auf die anderen und begnügen wir uns mit der
Grundüberzeugung, dass wir auch in der Lage sind eine Überprüfung
durchzuführen, solange andere das auch konnten. Übernimmt jemand etwa bei einer
eigenen Lebensgelegenheit jede Untersuchung und Prüfung in die Hand und kommt
zu einem sicheren Ergebnis (also Wahrheit der betrachteten Gelegenheit), dann
besitzt er auch diese Wahrheit tatsächlich, wobei andere, die evtl. sein
Ergebnis annehmen wiederum vom „Wahrheitskredit“ leben.
[1] : GPTD VIII, S. 434.
[2] : GPTD VIII, S. 440.
(1): Dieses Wort hat meines Wissens James nicht benutzt, ich habe es
selbst „geschmiedet“
GPTD VIII: Geschichte der
Philosophie in Text und Darstellung, Band
8
20. Jahrhundert
Reclam
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