26.10.2012

(8) Was meint James mit seiner Rede vom „Wahrheitskredit“? Welchen Aspekt seiner Wahrheitstheorie will er damit erläutern? Beurteilung dieser Vorstellung



Der Pragmatismus spricht dem Wahrheitsbegriff eine Schlüsselrolle zu. Wenn die Wahrheit für Peirce nur als Konsens im Rahmen der Wissenschaftsgemeinschaft gefunden werden kann, gilt für James, diesen Wahrheitsbegriff über die Wissenschaft hinaus zu erweitern, damit jedes Erlebnis eines jeden Menschen auch als Wahrheit gelten kann. James leitet aus dem Bedingungsverhältnis von Wahrheit und Nützlichkeit als dem Grundkriterium des pragmatischen Philosophierens ab, dass keine Wahrheit, auch nicht eine persönliche vorweg zensiert sein darf. Wenn einzig und allein die Nützlichkeit das Maßstab für Sinn oder Unsinn, also für Wahrheit eines Unternehmens gilt, dann reicht beispielsweise ein gelungenes Leben als Beweis aus, dass die Vorstellungen dahinter wahrhaft waren. James leiht von der Ökonomie Begrifflichkeiten aus, um seine Philosophie zu verdeutlichen und spricht z. B. vom Wahrheitskredit. Damit weist er auf die Vorinvestition eines Menschen in Form von Vorstellungen, Pläne, die seinem Leben zuvorkommen, bevor er konkret anhand Erfolg oder Misserfolg feststellen kann, ob seine Lebensvorstellungen wahr waren oder nicht. Das Wahrheitskredit entspricht in diesem Vergleich einem Geldskredit, das im Finanzmarkt zuerst nur auf Hinsicht auf Erfolg investiert wird und erst später wird es sich zeigen, ob der Investor mit seiner Hinsicht oder Vorstellung Recht hatte bzw. in Wahrheit war.
Noch abstrakter formuliert, auf der Zeitschiene werden zuerst Urteile und Vorstellungen stattfinden (wie ein Kredit auf Zeit), aber ihre Wirkungen im konkreten Leben werden dann erst später auftreten (wie eine Rendite), die wiederum zeugen, ob wir anfangs mit unseren Absichten in der Wahrheit waren oder nicht.
Aber so starr und simpel sieht James das Verhältnis zwischen Gedanken und Tatsachen wiederum nicht, denn Wahrheit für ihn ist eher ein dynamischer Prozess, bei dem wir immer wieder die Übereinstimmung zwischen unseren Ideen und Wirklichkeit überprüfen. Daher benutzt James die ökonomischen Metaphern wie „Kredit“, um erstens das dynamische Zusammenspiel zwischen theoretischen Bemühungen und deren tatsächlichen Folgen zu visualisieren und zweitens den Nutzen als alleinigen „Wahrheitssprecher“ hervorzuheben.
Über die Wahrheit entscheidet die praktische Angemessenheit der Vorstellungen an die Lebensbedürfnisse. James versteht die Verifikation nicht nur im Sinne der Korrespondenztheorie, sondern erweitert diesen Sinn und hält sie für den dynamischen Prozess der Wahrheitsproduktion selbst. Jeder für sich kann nicht alles verifizieren, obwohl die prinzipielle Möglichkeit hierzu gegeben ist, aber er muss es auch gar nicht, denn nach James ist jede Wahrheit nur ein für Wahrhalten ist, das auch indirekt verifizierbar ist. Solange wir keinen triftigen Grund haben, brauchen wir das, was für wahr gilt und auf Erfahrungen anderer Mitmenschen beruht nicht in Zweifel zu ziehen. Diese indirekte Verifikation bringt einen weiteren Aspekt des Begriffs „Wahrheitskredit“ zum Ausdruck. Diesbezüglich sagt James: „Wir lassen indirekte Verifikation ebenso gelten wie direkte. […] Die Wahrheit lebt tatsächlich größtenteils vom Kredit. Unsere Gedanken und Überzeugungen ‚gelten’, solange ihnen nichts widerspricht, so wie die Banknoten so lange gelten, wie niemand ihre Annahme verweigert. Dies alles weist aber auf augenscheinliche Verifikation hin, die irgendwo vorhanden sind. Ohne diese muss unsere Wahrheitsfabrik ebenso zusammenbrechen wie ein finanzielles Unternehmen, dass keine Kapitalgrundlage hat. Sie nehmen von mir eine Verifikation an und ich eine andere von Ihnen. Wir verkehren untereinander mit Wahrheiten. Aber die Grundpfeiler des ganzen Oberbaues sind doch immer Überlegungen, die von irgendjemanden anschaulich verifiziert worden sind.“ [1]   

Kommentar zu dieser Wahrheitstheorie von James:

James interpretiert den Wahrheitsbegriff (im Sinne der Korrespondenztheorie) als Übereinstimmung zwischen Denken und Sein, die er weiterhin als einen „Vorgang-des-Geführt-Seins“ ansieht: „Übereinstimmung stellt sich demnach in ihrem Wesen als ein Akt des Führens heraus. Dieses Führen ist ein nützliches Führen, denn wir gelangen dorthin, wo Dinge sind, die für uns von Wichtigkeit sind. Wahre Ideen führen uns sowohl zu nützlichen Worten und Begriffen als auch unmittelbar zu sinnenfälligen Dingen.“ [2]
In der Jamesschen Theorie ist die Wahrheit nichts statisches, sie ist kein Befund, kein Zustand der Dinge, die einmal gefunden wird für ewig erhalten bleibt. Sie ist hingegen ein Prozess der Bewahrheitung einer Beziehung zwischen Gedanken und Tatsachen; eine Beziehung, die von einem Subjekt im Vorfeld als Hypothese entworfen und anschließend an der Realität überprüft wird, wobei diese Verifikation keine eindimensionale oder lineare ist, sodass man sagen könnte: Da sind die Gedanken und hier sind die daraus entstandenen Realitäten, und stimmen die beiden überein, dann tritt damit die Wahrheit zu Tage. Sondern handelt es sich hier um eine mehrdimensionale Relation zwischen Subjekt und Objekt bzw. zwischen Denken und Sein. Und die Mehrdimensionalität liegt in der Dynamik des Lebens selbst begründet. Wenn James davon spricht, dass die Wahrheit tatsächlich größtenteils vom Kredit lebt, dann meint er, dass eine Verifikation nur eine komplexe sein kann, nämlich eine direkte und vor allem auch eine indirekte ist, indem wir auf Erfahrungen anderer Menschen angewiesen sind, um etwas „für wahr zu halten“, also um überhaupt von Wahrheit oder genauer Fürwahrhalten sprechen zu können. Unser Vertrauen in fremden Erfahrungen findet einen ‚Trost’ (um nicht von einem Grund zu sprechen) in dem Glauben, dass wir im Prinzip selbst in der Lage sind, Überprüfungen jeder Zeit durchzuführen. Diese grundsätzliche Möglichkeit ist zwar offensichtlich, aber in der Realität kaum umsetzbar und trotzdem baut sich darauf - meiner Ansicht nach - die ganze Utopie einer Zusammenhaltenden, funktionierenden menschlichen Gesellschaft. Keiner realisiert wirklich, wie stark er von seinen Mitmenschen abhängig ist. Wir trinken Wasser im Vollvertrauen, dass es sauber und gesund ist und trotzdem haben wir es nie selber überprüft. Ähnliches gilt für unsere Lebensmittel, Medizin, Autos, Häuser, Kleidung, also eben für alle unsere Lebensbedürfnisse. Sogar in dem Lebensbereich, wo wir kompetent sind, führen wir für die Gesellschaft nur einen Teil der Überprüfungen aus, den Rest übernehmen andere. Die Komplexität des Lebens, insbesondere heute führt dazu, dass das Auf-einander-angewiesen-sein (1) jede Lebensecke beherrscht, auch in unserem Spezialbereich, wo wir stolz sind, mitmachen zu dürfen, sind wir direkt oder indirekt von anderen und auch von deren unzähligen von uns selbst nie geprüften Erzeugnissen und Arbeitsmitteln abhängig.
Dieses Auf-einander-angewiesen-sein (genommen im Sinne von James) drückt die Tatsache aus, dass die Wahrheit nicht nur eine Angelegenheit eines Individuums ist, sondern eher eine für die Gesellschaft, wobei die letzte im allgemeinen Sinne verstanden wird im Gegenteil zu Peirce, der sie auf die wissenschaftliche Gemeinschaft beschränkt. Wenn Peirce sich in erster Line für das Forschungslabor interessiert, sieht James im ganzen Leben sozusagen ein riesiges Labor, wo sich ständig Wahrheiten (oder das, was für solches gehalten ist) auf Prüfstand sind, so dass alte Annahmen vernichtet und neue angenommen werden und das einzige, was in diesem ewigen wiederholten Unterfangen zählt ist das, was für die Menschen vom Nutzen ist. Und wenn wir von Nützlichkeit als Bewertungskriterium der menschlichen Tätigkeiten sprechen, heißt das für mich, dass jede Schädlichkeit ausgeschlossen bleiben muss, was im Umkehrschluss bedeutet, jedes Tun zu unterlassen, das dem Menschen, also auch seiner Umwelt Schaden einrichten kann. Ich denke nicht, dass James den Begriff „Nutzen“ im Sinne des bekannten Spruchs „der Zweck heiligt die Mittel“ versteht. Spricht man diesem Begriff die Schlüsselrolle, um etwas für wahr gelten zu lassen, dann heißt das logischerweise, seinem Gegenteil, nämlich „Schaden“ einen Platzverweis zu erteilen. Kurzum, der Nutzen im absoluten Sinne schließt sein Gegenteil aus, denn sonst wird ein Nutzen gar keine im engsten Sinne. Es versteht sich, dass ein absoluter oder reiner Nutzen nicht realistisch ist, genauso wie es keine gänzlich schadenfreie Tätigkeit gibt. Es handelt sich hier vielmehr darum, die Grenzen zu malen innerhalb deren, der Mensch ansatzweise sein Tun und Lassen veranlasst und während er zwar stets seinen Nutzen vor Auge hat, bleibt er aber wohl bewusst, dass es wirklich um einen solchen geht und dass kein Schaden um die nächste Ecke lauert.
Worauf weist uns das Wort „Kredit“ auf?
Ein junges Paar finanziert eine Wohnung durch einen Bankkredit. Also die zwei jungen Menschen genießen zwar „ihre“ Wohnung, die ihnen im Grunde genommen aber gar nicht gehört und die sie selbst auch nicht gebaut haben. Also ein Kredit dient dazu, etwas anzunehmen, zu haben, zu „genießen“ …usw., ohne es eigentlich vorerst wirklich zu besitzen. Bezahlt das Paar den Kredit ab, erst dann kann man von der Wahrheit sprechen, dass die beiden in der Tat die Wohnung besitzen. Der Umgang mit Wahrheiten ist diesem Beispiel ähnlich, denn wir tauschen sie, nehmen sie nur an, denn für ihre Prüfung verlassen wir uns auf die anderen und begnügen wir uns mit der Grundüberzeugung, dass wir auch in der Lage sind eine Überprüfung durchzuführen, solange andere das auch konnten. Übernimmt jemand etwa bei einer eigenen Lebensgelegenheit jede Untersuchung und Prüfung in die Hand und kommt zu einem sicheren Ergebnis (also Wahrheit der betrachteten Gelegenheit), dann besitzt er auch diese Wahrheit tatsächlich, wobei andere, die evtl. sein Ergebnis annehmen wiederum vom „Wahrheitskredit“ leben.

[1] : GPTD VIII, S. 434.
[2] : GPTD VIII, S. 440.
(1): Dieses Wort hat meines Wissens James nicht benutzt, ich habe es selbst „geschmiedet“

GPTD VIII: Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung, Band 8
20. Jahrhundert
Reclam
 

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